Hier im Himmel ist es so schön. (1)
Quietschend öffnete sich die Garagentür. (2)
Wenn wir ankommen, fangen wir an zu putzen. (3)
Das Apfelbäumchen ist verbrannt, das Birnenbäumchen ist verbrannt, mit allen Blütenblättchen. (4)
Wot, sterben werd ich, dann werdet ihr aber heulen! (5)
Als der „Drüderer“ abgeschlossen war, hörte er auf zu schreiben (6)
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In dem Lettischlehrbuch, das ich zusammen mit Inga geschrieben habe, enthält ein Dialog in Lektion 3 ungefähr diese Worte:
Jānis: Ieva hat morgen Geburtstag. Ich möchte ihr etwas schenken, aber ich weiß nicht, was. Hast du eine Idee?
Toms: Vielleicht ein Buch? Ich weiß, dass sie gerne liest. Pauls Bankovskis hat gerade einen neuen Roman veröffentlicht. Ich glaube, der ist gut.
Ich schrieb das so um 2006, und ich war mir sicher, dass ich damit nichts falsch machen würde: Pauls Bankovskis würde noch viele Jahre lang genügend oft einen neuen Roman veröffentlichen (und der würde gut sein), so dass dieser Satz aktuell bliebe. Als ich das Buch 2012 zum Druck vorbereitete, konnte ich zu dieser Stelle nur bestätigend nicken. Und auch 2020 stimmt es noch. Aber dann nimmermehr.
Na, der Pauls is net tot, möchte man ihm wie Brel dem Fernand nachrufen (und ihm eine Familie erfinden, dabei hatte er die, doch seit dem Tod seiner Liebsten vor einem Jahr war er allein).
Sein letzter, nun also sein letzter, Roman ist erst diesen Sommer erschienen, er heißt Pasaules vēsture, Die Geschichte der Welt, ein grandioser Titel für einen letzten Roman, doch er war nicht als solcher gedacht, der nächste war schon in der Planung (ein biographischer Roman über Kārlis Skalbe in Gundega Repšes neuer Serie), und ein neuer Band mit Kurzgeschichten war begonnen oder schon halb fertig, wer weiß das jetzt, aber dieser Titel dieses letzten Romans passt zum Titel seines ersten Romans, Laiku grāmata, Das Buch der Zeiten, 1997.
Pauls Bankovskis schrieb. Romane, Kurzgeschichten, Kinderbücher, Drehbücher, Bastelbücher, Essays, Blogs und alles andere auch. Er schrieb wohl mehr als er sprach. Typisch lettisch introvertiert, so, wie er sich und die lettische Alltagskultur 2017 in der selbstironischen Kampagne von latvianliterature.lv präsentiert.
„Denn stellt euch vor, ich würde die ganze Zeit herumlaufen und schreien, als sei ich im Wald, dann hätte ich ja keine Zeit mehr, etwas zu schreiben.“
Pauls Bankovsksis schrieb. Ein Verzeichnis seiner Werke, ein paar Informationen zu seiner Person und gute Worte der Würdigung findet Ihr im Wikipediaeintrag, den Matthias Knoll dankenswerterweise gerade aktualisiert hat.
Ich notiere hier nur ein paar meiner persönlichen Eindrücke seines Werks, aufgehängt an ersten Sätzen.
(1) Hier im Himmel ist es so schön.
Erster Satz des Romans Ofšors (Offshore), 2006; Ausschnitte ins Deutsche übersetzt von Berthold Forssman, zu finden auf lettlandlesen hier und hier.
Diesen kurzen Roman mag ich irgendwie am liebsten. Er ist allerdings nicht typisch für sein Werk, zu privat, zu lyrisch. Seine typischen Romane erzählen ein Stück Geschichte, vorzugsweise des 20. Jahrhunderts. Zum Beispiel die Zeit der Regierung des alten Breschnew, die er zwar selbst nur als Kind erlebt hat, von deren Stimmung er aber eben als waches Kind mit deutlich älteren Geschwistern viel mitbekommen hat, wie er in einem Interview einmal sagte, als man ihm vorwarf, für dieses Thema zu jung zu sein.
(2) Quietschend öffnete sich die Garagentür.
Erster Satz des Romans Čeka, bumba & rokenrols, 2002. Matthias Knoll hat dafür als deutschen Titel Spitzel, Schnaps & Rock’n‘ Roll vorgeschlagen und einen Ausschnitt übersetzt, der auf der Leipziger Buchmesse 2004 vorgestellt wurde und in dem zu diesem Anlass auf Deutsch erschienen Informationsmaterial zum Autor abgedruckt ist.
Als Geschichtskenner und Geschichtenerzähler hat Bankovskis natürlich auch einen Roman in der erfolgreichen Reihe mēs. Latvija, XX gadsimts (wir. Lettland, 20. Jahrhundert). Ihm fiel das Jahr 1918 zu, das Gründungsjahr der Lettischen Republik. Den Anfang und das sehr interessante Nachwort könnt Ihr in meiner Übersetzung hier lesen.
(3) Wenn wir ankommen, fangen wir an zu putzen.
Erster Satz des Romans 18 (2014).
Dieser Roman besteht zum Teil aus fiktiven Tagebucheinträgen, die sich wie Essays oder Blogs lesen, was mir an ihm besonders gefällt.
Dann kam er auf die Idee, die lettische Geschichte einmal aus der Perspektive verschiedener Tiere zu erzählen. Daraus entstand der sehr hübsche, mit Aquarellen des Autors illustrierte, als Kinderbuch getarnte Erzählband Wo ist mein Mensch geblieben?
(4) Das Apfelbäumchen ist verbrannt, das Birnenbäumchen ist verbrannt, mit allen Blütenblättchen.
Erster Satz der ersten Geschichte des Bands Kur pazuda saimnieks? (2017)
Gleich die erste Geschichte (in der eine Kuh die Unruhen von 1905 erlebt) hat mich ziemlich berührt durch ihre Sprache. Wenn ich jemals ein Seminar zur Übersetzung lettischer literarischer Texte leiten sollte, werde ich die Teilnehmer damit quälen. Jedes Substantiv ist in der Verkleinerungsform, was im Deutschen einfach nicht geht
Viele, viele Geschichten hat er geschrieben. Wenige, wenige sind ins Deutsche übersetzt. In der Übersetzung von Matthias Knoll erschien das leider nur schmale Bändchen Schule. Unterstufe – Kurzgeschichten (merz&solitude, Reihe Literatur, 2008). Der folgende wahre Satz stammt daraus.
(5) Wot, sterben werd ich, dann werdet ihr aber heulen!
Erster Satz der Kurzgeschichte Sārtais (Rosig).
Eine frühe Kurzgeschichte, die auf Deutsch in der leider nicht mehr erhältlichen Anthologie Der idiotische Mond erschien, zeigt sehr schön, dass Pauls gerne herumgespielt hat. Das ist ihm geblieben.
(6) Als der „Drüderer“ abgeschlossen war, hörte er auf zu schreiben
Anfang des einzigen Satzes der Erzählung Die Nachdrüdererzeit, Original: Pēcdziedra laiks, 1997, kongenial übersetzt von Alexander Schmidt.
Hier ist die erste Druckseite, abgetippt aus: Heide Lydia Schmidt (Hrsg.) Der idiotische Mond. Lettische Prosa der Gegenwart. Aus dem Lettischen von Alexander und Heide Lydia Schmidt. dipa-Verlag Frankfurt am Main 1997
Die Nachdrüdererzeit
Eine Erzählung aus dem Zyklus Mißverständnisse
Als der „Drüderer“ abgeschlossen war, hörte er auf zu schreiben, ja, ja, ich verstehe, das klingt wenig glaubhaft, Sie haben den Eindruck, ich wolle Sie zum Narren halten, wie ist denn das möglich, werden Sie fragen, daß unser Klassiker, der Autor von „Gliebenmerne“ und von „Muntere Torsion“ plötzlich verstummt ist, daß er seine Inspiration sozusagen erschöpft, all seine Kräfte verausgabt hätte und nach dem „Drüderer“ das Schreiben an den Nagel gehängt hätte, natürlich, Sie werden fragen, wer denn zum Beispiel „Flugflieder“ geschrieben hat und „Perminders Hälftner“, die doch eine ganze Weile nach dem „Drüderer“ erschienen sind, Sie werden wissen wollen, wessen Feder die berühmten „Tobelvaters Offenbarungen“ zuzuschreiben sind, die zahlreichen Theaterstücke, Gedichte und Artikel für Zeitungsbeilagen, wer denn all das geschrieben hat, weshalb das Porträt des Dichters die Buchdeckel schmückt, ob denn wirklich ein Lump die Dreistigkeit besessen habe, sich des Dichters unsterblichen Namen anzueignen, ein Hochstapler also, und wo denn der ehrwürdige Literat selber war, warum er schwieg, warum er einen solchen Betrug erlaubte, was er nach dem „Drüderer“ überhaupt gemacht hat, deshalb, meine Damen und Herren, muß ich Sie daran erinnern, in welcher Zeit er gelebt hat, wann er in seinen Hausschuhen über dieses Par-
Und nun nehmt einen Stadtplan von Riga zur Hand (aber nicht so einen Touri-City-Plan, sondern einen, auf dem Wohnviertel links und rechts der Daugava zu sehen sind, meinetwegen auch Google Map), lest einen Blogpost, den Pauls vor zwei Monaten auf satori.lv veröffentlicht hat und ich für euch übersetzt habe, und stellt Euch vor, wie er wo gelebt hat.
Iztēlojies? Tad aizmirsti.
Hast du es dir vorgestellt? Dann vergiss es.
(Letzter Satz des Romans Sekreti, 2003)
(Foto aus seinem letzten Interview, la.lv/esmu-optimists-lai-gan-depresivs)