Die Klänge der Stadt
(Pilsētas skaņas. Erschienen auf Satori am 01.06.2020. Aus dem Lettischen von Nicole Nau)
Einmal hatte ich eine Businessidee für Souvenirs, die ich aber nie in die Tat umgesetzt habe. Jede Stadt, jedes Viertel, jeder Park und jede Straße haben ihren eigenen Klang. Riga ist nicht Moskau und Moskau ist nicht Venedig, und der Rigaer Stadtteil Āgenskalns ist nicht Čiekurkalns. Die Geräusche unterscheiden sich auch am Morgen, am Tag, abends und nachts. Das habe ich schon als kleines Kind entdeckt. Meine Businessidee bestand darin, Musik und die darum herum existierenden Klänge aufzunehmen, wobei Rigas Straßenmusikanten verewigt würden. In der Art volkskundlicher Sammlungen und ethnographischer Fixierung bestehender Realität. Angefangen mit der Frau am Freiheitsdenkmal, bis hin zu dem falsch röhrenden Mann mit Gitarre, der sich nachts beim Narvesen-Kiosk an der Straßenecke von Dzirnavu und Brīvības iela einbildet, er sei Valdimir Vysotzky.
Nach Riga zogen wir Ende der 90er Jahre und wohnten zunächst in der Auces iela in Pārdaugava. Kurz darauf wurde unsere Tochter geboren. Der Unterschied in der Geräuschkulisse, verglichen mit der Stille am Waldrand von Jūrmala war sofort offensichtlich. An Sonn- und Feiertagen wurden wir von den Glockenschlägen der orthodoxen Kirche der Heiligen Dreieinigkeit geweckt, die sich direkt unter unserem Fenster befand, und an solchen Feiertagen wie Ostern hörten wir das Singen der Teilnehmer des Kreuzwegs, die um das Gotteshaus herum gingen. Doch auch an Werktagen war es nicht langweilig. Schon gegen sechs Uhr früh schallte von der Straße das Geräusch zerbrechenden Glas. Das bedeutete, dass der Glasmann da war und sich an den Mülleimern betätigte. Er suchte alle Pfandflaschen aus dem Müll heraus, lud sie in eine Blechwanne, die auf ein Kinderwagengestell montiert war, und zerschlug sie methodisch mit einem Hammer. Sie können sich vorstellen, was das für ein Radau war. Ich weiß allerdings nicht, wo er das zerschlagene Glas dann hintat.
Und dann zogen wir in die Tempļa iela, die ganz in der Nähe war. Die sandige Straße selbst ist ruhig, dort verkehren nur die Einwohner der nächsten Häuser. Für eine Geräuschkulisse sorgte jedoch das Gezänk des im ersten Stock wohnenden Viktors mit seiner geschiedenen Frau Klaudija. Sie wohnten zusammen in einer Wohnung. Das Haus hatte überhaupt nur zwei Stockwerke, und in jedem nur eine Wohnung. Die beiden waren schon lange geschieden, teilten sich aber die Wohnung in einer Art Wohngemeinschaft. Wenn Viktor gerade nicht brüllte, trank er still in seinem Zimmer. Manchmal brachte er Freunde heim, und manchmal versuchte er, das Haus abzubrennen. Wenn er aber nicht trank, begann das Delirium, und das war auch keine ruhige Angelegenheit. Er sprang aus dem Fenster mit nur einem Schuh und brüllte, überall seien Panzer, Kanonen und Maschinengewehre. Sein Sohn, der im Nebenhaus wohnte, sagte bei diesen Ausbrüchen, man müsse die Feuerwehr rufen.
In einer konspirativen Wohnung in der Artilērijas iela, in der ich mich mit meiner Liebsten zu treffen pflegte, war nur das ferne Rauschen des Verkehrs auf der Brīvības iela zu hören, denn die Wohnung lag zur Hofseite im obersten Stock des Gebäudes. Die einzigen Geräusche, die man dort deutlich hören konnte, kamen von den Nachbarn, denn die Wohnung teilte sich den Flur mit der Nachbarwohnung, weshalb man gut hören konnte, wenn sie kamen oder gingen. Ich kann mich aber nicht erinnern, sie je getroffen zu haben.
Und dann zog ich in die Brīvības iela. Dort waren ganz andere Geräusche. Dumpf und tief rüttelten die Trolleybusse, Möven schrien sich unaufhörlich etwas zu, nachts brausten mit wildem Lärm Motorräder vorbei, sang der bereits erwähnte Vysotzky-Imitator, und am Hotel Latvija tummelten sich, kreischten und kotzten manchmal die Liebhaber suspekten Nachtlebens, und noch suspektere Taxis fuhren dort an und ab. Morgens, immer um fast dieselbe Zeit, schlurfte das Gefährt der Stadtreinigung mit seinen kreisenden Bürsten vorbei. Dann wurde das Einkaufszentrum Galleria Riga eröffnet, und auf dessen Dach eine Reihe von Restaurants und Bars. Rhythmische Musik erklang im Sommer bis spät in die Nacht.
Doch in der Elvīras iela herrschte perfekte Stille, denn die großen Straßen waren weit weg. Keine Motorräder, keine Trolleybusse, nicht mal Sirenen. Das einzige Geräusch war das Piepsen der Spatzen in den Büschen vor dem Fenster.
Nun wohne ich schon einige Zeit in der Tallinas iela, und hier sind wieder völlig andere Klänge. Es gibt viele Vögel, vielleicht, weil Parks in der Nähe sind, man hört sogar Amseln, hingegen fast keine Möven. Motorräder sind eine Seltenheit. Sirenen hört man sehr selten, obwohl es genug Gründe für ihr Aufheulen gäbe – nachts sind ziemlich viele Nachtschwärmer auf den Straßen, die durch Schreie miteinander kommunizieren, gleich um die Ecke ist auch ein den Anwohnern gut bekannter Treffpunkt der Drogenhändler. Kürzlich wurde im Erdgeschoss direkt unter meiner Wohnung ein Rimi-Supermarkt eröffnet. Einerseits ist das sehr bequem – ich kann notfalls in Bademantel und Hausschuhen einkaufen gehen. Doch die Schattenseite zeigte sich bald. Früh von sechs bis sieben halten jetzt direkt unter meinen Fenstern die Zulieferer und laden unter lautem Gerassel und Zurufen die frischen Lebensmittel für den kommenden Tag aus und die unverkauften und abgelaufenen Lebensmittel ein. Das ist alles ganz interessant zu beobachten, denn man lernt dadurch das Leben des Ladens sozusagen von der anderen Seite kennen. Doch der Lärm ist erheblich, wobei die Fahrer noch meistens den Motor laufen lassen. Es ist nicht mehr angenehm, die Fenster offen zu haben. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, mich zu beschweren – es ist, wie es ist -, doch einige der Hausbewohner proben den Aufstand und protestieren und wollen sich bei der Hausverwaltung beschweren. Vor ein paar Tagen kam eine Nachbarin in dieser Sache zu mir. Vielleicht dieselbe, die in der Wohnung über mir immer so laut trampelt. Das ist übrigens ziemlich verwirrend, denn sie scheint überhaupt nicht zu schlafen – ihre Schritte sind sowohl um zwei Uhr nachts als auch um vier Uhr morgens zu hören. Mich stört das nicht.
Was die Klänge der Stadt angeht, habe ich kürzlich eine interessante Tatsache gefunden. Wussten Sie, dass es in der Stadt eine sehr große Population von Eulen gibt? Und doch hört man keine Eulenrufe. Der Grund, weshalb die Eulen in der Stadt schweigen, zeugt von Logik und Scharfsinn, wenn man Vögeln den denn zusprechen kann. Die Eulen „verstehen“, dass sie bei der allgemeinen Geräuschkulisse der Stadt ihre Artgenossen sowieso nicht heraushören können, und die Eulenrufe dienen der Kommunikation. Nach dem Motto, was soll man sich sinnlos den Schnabel verkühlen. Es ist eigentlich verwunderlich, dass die Menschen in der Stadt trotzdem noch miteinander reden und sich nicht dem Klang der Stille hingeben.
„And the people bowed and prayed
To the neon god they made
And the sign flashed out its warning
In the words that it was forming
And the sign said:
„The words of the prophets are
Written on the subway walls
And tenement halls
And whispered in the sound of silence.““