Russisch ist schön.

Ein Plus von Sprachen mit vielen Sprechern, sogenannten „großen“ Sprachen, ist ihre große Vielfältigkeit. So wie Menschen gut oder böse oder (meistens) irgendwas dazwischen sind, so hat eine Sprache als die Summe aller Stimmen schöne und hässliche Areale. Von Russen hören wir heute zu häufig aus den hässlichen. Da tut es gut und Not, einer schönen Stimme zu lauschen.

Als Teenager in einem westdeutschen Dorf verliebte ich mich zufällig in die russische Sprache. Der erste Anlass war eine ins Deutsche übersetzte Stimme (da haben wir’s, eine Sprache kann noch in der Übersetzung etwas von ihrer Kraft und Schönheit vermitteln, ein Lob allen Übersetzern!): im väterlichen Bücherregal standen wer weiß woher zwei schmale Bände Majakowski, Verlag Volk und Welt von 1950. Ich versuchte, damals und dort nicht einfach, herauszufinden, wie eine solche Stimme im Original klingen könnte. In der väterlichen Plattensammlung gab es zwei LPs von den Auftritten des Chors der sowjetischen Armee in Paris. Wenig später kam ich zu Liedern von Bulat Okudschawa und Wladimir Wyssozki. Ich belegte einen Volkshochschulkurs und ein paar Jahre später wählte ich Russisch als Nebenfach in meinem Studium in Hamburg. Ich bin nie heimisch geworden in dieser Sprache, aber wenn sie mir in der Form von Versen und einer schönen Stimme entgegentritt, kann sie mich immer noch faszinieren, verwirren, flashen wie vor vierzig Jahren.

So geschah es Ende Februar in Zürich, wo das unerwartete Highlight einer Reihe schöner und spannender Veranstaltungen der „Tage baltischer Literatur“ für mich der Auftritt von Semjon Hanin mit dem Kontrabassisten Christian Weber war. Semjon Hanin ist ein russischsprachiger Dichter aus Lettland, oder, wie es im Klappentext heißt, „ein auf Russisch schreibender lettischer Dichter“. Die wunderbare Edition Korrespondenzen hat 2021 einen Band seiner Gedichte zweisprachig herausgegeben, mit den deutschen Fassungen von Anja Utler. So schön es ist, diese Gedichte zu lesen, noch schöner (oder anders schön) werden sie in der Performance des Autors.

Hanins Gedichte packen uns immer ganz unmittelbar, denn vom ersten Wort an sind wir schon mittendrin im Geschehen, das sich aber erst allmählich und bruchstückhaft entfaltet. […] Die Formulierungen sind oft eigenartig schief angeschnitten, wollen nicht ganz passen, kippen oder brechen ganz ab. Dann tendieren sie wieder zu äußerst komischen Fallhöhen, wenn lautlich differenziert gestaltete Verse in dezidiert mündliche, floskelgesättigte Alltagsrede umschlagen oder sich von dort zu klanglich flirrenden Begriffsfügungen aufschwingen. (Klappentext)

Ein solcher Anfang, der mich unmittelbar packte, ist dieser

своди ее в сады
потом своди к воде, к реке
потом сведи с ума

bring sie in den Garten
dann bring sie ans Wasser, den Fluss
dann bring sie um den Verstand

HaninWeberMitBuch

Der Auftritt ist noch auf dem YouTube-Kanal des Literaturhaus Zürich zu sehen und zu hören (das zitierte Gedicht beginnt ca. 1:09):

https://www.youtube.com/watch?v=swyfimKs4Jg

Und das Buch können Sie in ihrer Lieblingsbuchhandlung bekommen oder meinetwegen auch online kaufen:

Semjon Hanin: aber nicht damit. Gedichte. Aus dem Russischen von Anja Utler. Edition Korrespondenzen, Wien 2021. https://korrespondenzen.at/aber-nicht-damit/

Hier ist noch ein vollständiges Gedicht aus dem Band, zum Frühlingsanfang:

wie ein Schlafwandler auf Dächern taut der Schnee
glitscht, wie das Kinderstimmchen von Frauen
abbricht, und vom Seil wie von einem verhedderten
Schnürsenkel irritiert rutscht auf seinen
wattig gelaufenen Beinen
der angetrunkene Seiltänzer aus
und wie eine Pelzmütze lässt er sich fallen
zerknautscht entleert erstarrt

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