Pauls Bankovskis: Offshore (Anfang)

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Pauls Bankovskis: Offshore.
Rīga: Valters un Rapa, 2006

Anfang des Romans. Übersetzt von Berthold Forssman

1

Hier im Himmel ist es so schön. All diese Wolken unter einem. Die Erde ist überhaupt nicht mehr zu sehen. Und die Horizontlinie ist genau in Augenhöhe, wobei, der Horizont liegt ja wohl immer genau in Augenhöhe. Hier ist der Ort, an dem der ausgefranste Rand der Wolkenfelder mit der blauen Himmelskuppel zusammentrifft. Und es weder Erde noch Meer gibt. Die Wolken sind ganz nah, und es scheint, als gleite man über ihre Oberfläche dahin. Über eine holperige, wellige, löchrige und bergige Oberfläche, die rau und hart aussieht wie der Grund eines ausgetrockneten Ozeans. Manchmal streifen wir die weißen Gipfel und die weichen Zipfelmützen der Schaumberge. Wieder ein kleines Stück weiter wachsen sie widerstrebend zusammen wie ein Wald. Um dich herum erheben sich weiße und blaugraue Wirbel wie wunderliche Bäume, und du saust zwischen ihnen hindurch wie durch ein Labyrinth. Deine Augen werden von der glänzenden Sonne geblendet, weil alle Wolken unter oder neben dir sind, aber keine ist über dir. Dir ist warm, obwohl du weißt, dass in einer solchen Höhe nur Kälte und Eis herrschen.

Wenn man dich am Flughafen fragt, was für einen Platz du willst – am Fenster oder am Gang –, wählst du immer einen Platz am Fenster. Und solange das Flugzeug in der Luft ist, ist deine Nase in Flugrichtung gedreht. Du drückst sie an der Scheibe platt und schaust hinaus, unfähig, dich abzuwenden. Wie in der Hoffnung, im Vorbeiflug etwas zu erblicken, das nicht einmal der Pilot bemerkt hat. Du hörst, wie der Wagen mit den Getränken und den Mahlzeiten in Plastikschachteln näher rumpelt, doch du stellst dich unwissend. Wenn dich die Flugbegleiterin fragt, ob du Tee oder Kaffee willst, murmelst du etwas in deinen Bart oder gibst ihr einfach einen Wink, und sie gießt dir irgendetwas ein. Manchmal Tee, gelegentlich auch Kaffee. Sie reicht dir Bier, Weiß- oder Rotwein, vielleicht auch eine Bloody Mary. Mal so, mal so, denn in Wirklichkeit ist es ihr egal. Du fühlst dich wie in einem Film. In einem Film, in dem dich ein Erlebnis erwartet. Und zwar ein Erlebnis der ganz besonderen Art. Und dir ist egal, dass sie, deine Flugbegleiterin – du hast sie schon deshalb als „deine“ Flugbegleiterin bezeichnet, weil sie dir tatsächlich am besten von allen gefällt – also dass „deine“ Flugbegleiterin mit einem Kollegen flirtet, mit dem Jungen, der den anderen Wagen schiebt und aussieht, als sei er schwul.
Im Lautsprecher ertönt die Stimme des Kapitäns. Er erzählt etwas in nachlässigem Englisch, das durch einen nicht näher zu bestimmenden und dennoch exotischen Akzent noch schwerer zu verstehen ist. Er warnt vor irgendwelchen Luftlöchern. Und genau in diesem Augenblick macht das Flugzeug einen kleinen Satz. Aber du freust dich darüber, weil du weißt, dass sich die Landschaft vor dem Fenster wieder verändert. Bald bekommst du einen ganz anderen Himmel zu sehen. Vielleicht sogar einen ohne Wolken. Dann kannst du unten von der Sonne ausgetrocknete Wüsten sehen, blaugraue Meeresflächen, rechteckige und trapezförmige Felder, Linien von Flüssen oder von langen Schatten gemusterte Berge. Aber vielleicht zieht auch ein Gewitter auf. Dann wird es dunkel, das Flugzeug wird hin und her geworfen wie ein kleines Schiff auf dem tobenden Ozean, und ringsherum werden blauweißrote Blitze flackern.
Doch dich lässt das alles kalt. Du gehörst nicht zu denen, die ängstlich den Vorhang vorziehen, sich in ihre Armlehne verkrampfen und um jeden Preis versuchen einzuschlafen. Oder Gebete murmeln. Oder in Gedanken die Sicherheitshinweise für Notfälle repetieren, die sie vor dem Start gehört haben. Die Hände hierhin, die Beine dorthin. Von oben fällt die Sauerstoffmaske herab, der Notausgang liegt da drüben. Die Schwimmweste erst außerhalb des Fahrgastraums aufblasen. Hochhackige Schuhe ausziehen, künstliche Gebisse herausnehmen, das Handgepäck zurücklassen. Ja, das ist vielleicht das Einzige, was dich stört. Dass du dein Gepäck zurücklassen musst. Auch wenn du nicht viel dabei hast. Stöckelschuhe waren abgesehen davon nie dein Ding.
Du schaust hinaus. Es gefällt dir hier oben im Himmel. Und es gefällt dir, wie die Erde von oben aussieht. Klein und unbewohnt. Verlassen. Als sei sie noch völlig unberührt. Oder als sei schon alles wieder zu Ende und könne wieder von vorne anfangen, bereit für alles, was da kommen mag.
Du schließt die Augen. Nur für einen Moment, für ein paar Sekunden. Dann machst du sie wieder auf. Kein Unwetter. Nur eine glänzend strahlende Sonne. Weit und breit keine Wolke. Weit unten grüne und braune Felder, dazwischen prächtiger gelber Raps in voller Blüte. Die dunklen geraden Linien von Straßen. Und die Schlangenlinien von Flüssen. In einer von ihnen erkennst du dieselben Linien wie damals, als du in ihr Gesicht blicktest. Zuerst fiel dir die Wölbung ihrer Nase auf, dann die Stirn, die Lippen, das Kinn und der Hals. Und sofort erkanntest du sie wieder. Das ist sie, dachtest du erfreut. Meine Geliebte. Meine Liebe. Das ist das Zeichen, sagtest du dir. Ich liebe sie. Du verfolgtest mit den Augen ihr Profil bis zum Boden, die Flusslinien entfernten sich, machten ganz andere Windungen und verloren jede Ähnlichkeit. Die Ähnlichkeit mit ihr. Eigentlich war dieser kurze Augenblick für dich genug. Aber gleichzeitig hattest du das Gefühl, dass er zu kurz gewesen sei.
Darum schaust du auch jetzt hinaus. Du schaust immer hinaus. Obwohl du genau weißt, dass sie schon lange nicht mehr dort unten ist. Höchstens dort oben im Himmel.
Zumindest versuche ich, mir das einzureden. Jedes Mal, wenn ich im Flugzeug sitze. Und diesmal ganz besonders.

2

In irgendeinem Abschnitt deines Lebens fällt dir auf, dass es dir gewaltig auf die Nerven geht, wenn Sachen herumliegen wie Kraut und Rüben. Sie springen dir sofort ins Auge und ins Bewusstsein, und schon kurze Zeit später ist dort für nichts anderes mehr Platz. Die Gegenstände auf dem Tisch, die nicht parallel zur Kante liegen. Oder im rechten Winkel. Die Bücher, die nicht der Größe nach geordnet auf einem Stapel liegen. CDs, die nicht alphabetisch sortiert im Regal stehen, sondern kunterbunt herumfliegen. Bei den einen fehlt die Hülle, daneben liegen leere Cover, und die Hüllen, in denen wirklich die richtigen CDs stecken, sind zerkratzt oder haben einen Sprung. Überall Klamotten, über den Stuhllehnen, in Haufen auf dem Boden und auf dem Bett. Eine dreckige Tasse, in der irgendetwas eingetrocknet ist, in einem Ausguss, der selbst schon lange nicht mehr sauber gemacht worden ist und vor sich hin müffelt. Haare in der Wanne. Krümel auf und unter dem Tisch. Allein vom Anblick wird dir ganz schlecht. Von dem Chaos ringsherum, das unbemerkt immer weiter zugenommen hat. Und du versuchst, Ordnung zu schaffen. Hübsche Stapel zu bilden. Zu putzen. Sachen wegzuräumen. Platz zu machen. Damit du endlich deine Ruhe genießen kannst. Dich hinsetzen, durchschnaufen, dir ein Glas Wein eingießen oder dir eine Tasse starken Kaffee oder einen grünen Tee aufbrühen kannst, dir deine Lieblingsmusik auflegst, eine von deinen vielen Lieblings-CDs, die jetzt leicht im Ständer zu finden sind, um festzustellen, wie gut alles jetzt ist.
Das alles sind meine Sachen. Und nur ich, ich allein auf der ganzen Welt weiß um ihre wahre Bedeutung, nein, nicht nur um ihre Bedeutung, sondern auch um die wahre Ordnung, in der sie ihre Bedeutung entfalten können.
Aber dann bemerkst du ein Spinnennetz in der Ecke. Oder Staubflusen unter dem Schrank. Oder ein Buch, das nicht ganz gerade steht. Und die ganze Freude verfliegt, als sei sie nie da gewesen. Du kannst den Tee, Kaffee oder Wein nicht mehr so unbeschwert genießen. Du stehst auf, obwohl du überhaupt keine Lust hast, suchst einen Besen und einen Scheuerlappen und versuchst, dieses unvermittelt aufgetretene Ärgernis zu beseitigen. Aber als du wieder Platz nimmst, ist der Tee kalt geworden. Der Wein hat nicht mehr den feinen Geschmack wie beim Öffnen der Flasche. Ehrlich gesagt, er ist überhaupt nicht mehr gut. Irgendwie schmeckt er korkig. Und die Musik ist zu Ende.
Und dann fallen dir die Briefe auf oder besser gesagt ein. All die Briefe, die schon vor mehreren Monaten gekommen sind. Du hast sie gelesen und beschlossen, auf der Stelle zu antworten. Oder zumindest ein paar höfliche Phrasen zu Papier zu bringen. Freundliche Worte. Danke, dass Sie an mich gedacht haben, ich freue mich sehr, von Ihnen zu hören, ich werde das bestimmt berücksichtigen, ich fühle mich geehrt, sehe mich aber leider nicht in der Lage… Irgendwas in dem Stil. Doch dann kommt irgendetwas Wichtigeres dazwischen, etwas Dringendes, das keinen Aufschub duldet, und die Briefe geraten in Vergessenheit. Langsam, allmählich und unwiederbringlich versinken sie zwischen alten Zeitungen, und wenn sie lange genug auf dem Schreibtisch gelegen haben, vermischen sie sich mit anderen, ebenso wichtigen Papieren. Bis sie irgendwann ganz verschwunden sind. Um dann genau zu dem Zeitpunkt wieder aufzutauchen, an dem du endlich begonnen hast, dich deinem Ordnungsideal anzunähern. Sie sind zurückgekehrt, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen und dir diesen Abend endgültig zu verderben.
In solchen Augenblicken scheint es dir, als verstehest du, was Virginia Woolf meinte, als sie „Ein Zimmer für sich allein“ schrieb. Du brauchst auch so ein Zimmer. Eins, in dem die perfekte Ordnung aller Dinge herrscht. Eins, in dem es keinen Platz für Zufälle und Oberflächlichkeiten gibt. Ein Zimmer, in dem alles nur dir gehört. Und in dem du vor allem das Gefühl hast, dass auch du selbst ausschließlich dir gehörst.
Nach einer Weile wird diese Sehnsucht so stark, dass du alles einfach nur dem Schicksal überlassen und weglaufen willst. Um dann nach einer Weile zurückzukehren und zu entdecken, dass das Chaos in deiner Wohnung keineswegs so entsetzlich ist, wie es davor den Anschein hatte. In Wirklichkeit herrscht dort sogar größere Ordnung als in deinen Phantasiebildern. Und alles kann wieder von vorne beginnen.
Vielleicht geht das endlos so weiter. Und ganz bestimmt geht es vielen so. Also habe ich beschlossen umzuziehen. In mein eigenes Zimmer. Nicht wirklich umzuziehen. Eher so eine verrückte Aktion wie in der Geschichte in der Bibel mit dem Gelähmten, der sein Bett nimmt und geht. Das Bett mit sich herumtragen wie eine Schnecke ihr Haus. Nur die Sachen aussuchen, ohne die man absolut nicht auskommt. Sachen, die kein vernünftiger Mensch am Flughafen aufgibt, sondern die er im Handgepäck mitnimmt. Und die kein einigermaßen umsichtiger Mensch jemals im Stich lassen würde, nicht einmal im Fall eines Flugzeugabsturzes – auch wenn das die Sicherheitshinweise in der Tasche im Sitz vor dir verlangen. Es handelt sich um Sachen, bei denen jede Anweisung für Notfälle ihren Sinn verliert. Sachen, die man, wie es so schön heißt, auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Denken Sie an die Fragen, die Journalisten immer den Fernseh-, Kino-, Theater- und Sportstars stellen! Was würden Sie mitnehmen? Worauf könnten Sie auf gar keinen Fall verzichten? Und dann die Antworten. Auf meine Briefmarkensammlung. Auf meinen roten Lamborghini. Auf meine Ray Ban-Sonnenbrille. Auf mein Schoßhündchen. Auf Sex. Auf Rembrandt-Zahnpasta. Vielleicht auf den Kulturbeutel, auf das kleine runde Schminkset, wie man es in den Flughäfen an den sorgfältig manikürierten Händen bestimmter Damen baumeln sieht? Was würden Sie zu lesen mitnehmen, und welche CDs, wenn Sie sich auf eine Expedition in den Weltraum begeben würden und wüssten, dass Sie nie wieder auf die Erde zurückkehren? Die Bibel? Die Matthäus-Passion von Bach? Einen lettischen Klassiker wie „Die Zeit der Landvermesser“? „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“? Eine Gesamtaufnahme von Black Sabbath? „Das Gastmahl“ von Platon? Welchen Menschen hast du dein ganzes Leben lang geliebt, es ihm aber nie gesagt? Wen hättest du treffen wollen, hast es aber nicht getan? Wer wärst du gerne gewesen, bist es aber nicht geworden?
Da wurde mir klar, dass ich nicht mehr als meinen Laptop brauche. Nicht mehr als einen hinreichend großen Arbeitsspeicher, genug Platz auf der Festplatte und einen leistungsfähigen Prozessor, alle möglichen Internetanschlüsse und einen zuverlässigen Akku. In einem Ordner wäre meine ganze Lieblingsmusik, viel gute Musik. In einem zweiten Ordner wären alle ungelesenen Bücher, auch wenn ich sie bestimmt niemals alle lesen würde. Außerdem meine Fotos. Schöne Bilder, misslungene und einfache. Sowohl die damit verbundenen schmerzlichen als auch die lieben Erinnerungen. Und alle guten alten Filme. Und hier, an dieser Stelle, ist mein Gewissen, und dort ist mein Bewusstsein. Alles, was mir jemals eingefallen ist oder mich beschäftigt hat. Alles, was ich mir zu einem späteren Zeitpunkt zurück ins Gedächtnis rufen oder genauer untersuchen wollte. Aufgeräumt wie mein Zimmer.
Aber diese Idee kam mir um einiges zu spät. Erst danach.

***

Darum habe ich jetzt nur so wenige Sachen. Endlich. Nur eine einzige flache Tasche. Die ich natürlich nie als Gepäck aufgebe.

Mein Lieblingsbuch von Pauls Bankovskis. Ein ganz kurzer Roman oder eine ganz lange Erzählung. Ein paar der beschriebenen Realia sind heute schon Geschichte (obwohl das Buch erst 10 Jahre alt ist), aber um die geht es natürlich nicht. Eher schon darum, wie man aus allen Wolken fallen kann, und das ist ein zeitloses Gefühl.

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