Agnese Krivade (geb. 1981)
Oh,
selig, selig die verschwitzten
selig die die grad mal weg sind
selig die grob körniger struktur
selig die hässlichen mit schlechter figur
fuck ej
selig die hergelaufenen, abgefuckten, abgeknallten
alle russen in meinem viertel und die fraun an der kasse bei Mego, selig
die videoverleiher und türsteher, die grundschullehrerinnen und die leeren gepäckträger, in armut
und reichtum und ich geh für euch auf die barrikaden, ihr verdammten und dass dich der
bei denens eingeschlagen hat, die schräg gestrickt sind
und kreuz und quer all ihr anderen auf der ganzen welt auch
fuck ej
selig
(Deutsche Übertragung von Nicole Nau)
Dieses Gedicht, 2004 geschrieben, hat im Herbst 2015 einen Skandal verursacht: eine Lehrerin, die es in einer 10. Klasse im Literaturunterricht analysieren ließ, erhielt einen offiziellen Verweis wegen der anstößigen Wörter, die darin enthalten sind. Das könnte man komisch oder einfach lächerlich finden, es ist aber nur ein Beispiel für den seit kurzem an manchen Orten (darunter leider einigen höheren) sich ausbreitenden Tugendwahn. Eine gesetzliche Grundlage dafür ist mit einem kürzlich vom Parlament verabschiedeten „Tugendparagraph“ (oder „Sittlichkeitsgesetz“, das klingt noch schöner) geschaffen worden, wobei niemand so richtig weiß, was Tugend und Sittlichkeit eigentlich bedeuten sollen. Dass darüber nun breit und von verschiedenen Seiten diskutiert wird, ist vielleicht ein Gewinn. Derweil übersetzen mit Lettland verbundene Menschen aus Solidarität das anstößige Gedicht in alle möglichen Sprachen, nachzuverfolgen auf einer eigens eingerichteten Facebook-Seite mit dem klangvollen Namen „Dzeja is a poem est un poème ist ein Gedicht это поэзия“. Ich bin nicht bei Facebook, deshalb ist meine Übersetzung hier.