Pauls Bankovskis: Der Mantel (aus: 18)

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Pauls Bankovskis: 18.
Rīga: Dienas Grāmata, 2014

Anfang des Romans, übersetzt von Nicole Nau

bankovskis_18

I
DER MANTEL
Wenn wir ankommen, fangen wir an zu putzen. Eigentlich hinterlassen wir ja bei unserer Abfahrt immer alles ordentlich und sauber, doch wenn wir zurückkommen, spüren wir einen unbezwingbaren Drang, alles noch sauberer zu machen und noch mehr aufzuräumen.
Natürlich haben Nagetiere Küttel hinterlassen, Spinnen haben Netze gewebt, auf der Fensterbank liegt die eine oder andere tote Fliege, das Wespennest in der Dachfensterecke ist jetzt leer und zerfallen, das Vogelnest hinterm Balkongitterbogen verlassen; in alle Ecken hat es zur Eichenblüte braune Krümel geweht, überall liegen kleine Stängel, Rispen und Blütenstaub von allerlei Blumen, Gräsern und Bäumen, in der Mülltonne eine verhungerte Maus und gleich neben ihrem vertrocknetem Leichnam die Hülle einer sich entpuppt habenden Fliegenpuppe; einzelne Legosteine liegen noch von früheren Besuchen auf dem Fußboden verstreut und warten darauf, dass ein Erwachsener mit nackten Füßen auf sie tritt; und Dinge, Dinge, Dinge, alle möglichen Dinge, die Jahr für Jahr mit der Feststellung „kann man sicher noch mal gebrauchen“ zur Seite gelegt wurden, oder die speziell aus der Stadt aufs Land geschafft worden waren, denn „in der Stadt benutzen wir das nicht mehr, aber fürs Land ist es noch gut genug.“

So vergehen denn die ersten drei Tage nicht etwa mit Rasenmähen, Absägen von verdorrten Ästen, Plattmachen von Maulwurfshügeln und Beseitigen von Wildschweinschäden oder Stapeln von Feuerholz, sondern mit Aufräumen und Hausputz. Früher hat in diesem Haus ein Förster gewohnt. Zu Beginn war es ein geducktes Gebäude mit wenigen Zimmern, gebaut auf einem vorgeschichtlichen Grabhügel. Erst im Laufe der Jahre, nach dem Wechsel des Besitzers und dem Tod des Försters, wurde das Haus um weitere Zimmer und um neue Legenden bereichert, wurden Veranden an- und das Dach ausgebaut und urbaner Komfort hielt Einzug. Es heißt, der Förster, wie schon sein Vater, sei ein Sonderling gewesen. Alle beide hätte gelegentlich überkommen, was in ihrer Familie „der Flattermann“ genannt wurde. Dann hätten sie das Haus verlassen und sich in selbstauferlegte und freiwillige Haft in einen für diesen Zweck im Wald ausgebauten unterirdischen Bunker begeben.
Wie das Haus zur Zeit des Försters ausgesehen hat, kann jetzt keiner mehr genau sagen. Eine ungefähre Vorstellung bekommt man durch die anderen Gebäude, die verstreut in dem von Einheimischen so gut wie verlassenen Dorf liegen. Sie haben einen einfachen, fast quadratischen Grundriss mit Küche und wenigen Zimmern. Möglicherweise haben wir jedoch das ehemalige Försterhaus in seiner ursprünglichen Gestalt noch gesehen. Und zwar im hiesigen Kulturhaus während des sommerlichen Liven-Festes. Im Foyer des Kulturhauses war eine Fotoausstellung aufgebaut, und auf einem der Bilder war unverkennbar unser Haus zu sehen. Es war fast um die Hälfte kürzer, aber um das Haus herum war alles wie jetzt: hier, die Eberesche vor der Tür, da, die eine Eiche ein bisschen ab vom Haus und die andere dicht am hinteren Ende. An der Haustür standen zwei Menschen, ein weiterer saß auf der neben die Tür gestellte Bank. Oft sind alte Fotos ja überraschend scharf und deutlich, manchmal kann man auf ihnen die erstaunlichsten Details erkennen, dieses Foto jedoch war außergewöhnlich verschwommen, die Gesichter der Menschen waren verwischt und es war unmöglich, ihr Alter oder Geschlecht zu bestimmen. Aus der Zeit, die in der Aufnahme verewigt war, blickten uns von der Front unseres eigenen Hauses weiße, in flauschigen Dunst gehüllte Gestalten der Vergangenheit an.
Die Müllsäcke füllten sich schnell und ebenso schnell wuchs die Liste mit Dingen, die wir unbedingt bei der nächsten Fahrt aus der Stadt mitbringen mussten. Während wir das eine hinauswarfen, stellte sich heraus, dass ein anderes die ganze Zeit gefehlt hatte.
„Werft bloß Opas Mantel nicht weg,” wurde dann gesagt.
„Opas Mantel darf auf gar keinen Fall weggeworfen werden,” wurde bestimmt.
„Opas Mantel müssen wir unbedingt aufbewahren.”
Und Opas Mantel kehrte zurück in den Schrank. Nur musste man vorher in die Taschen gucken. In einer war etwas eckiges, ziemlich schweres und hartes.
Es war ein faltiger, stellenweise zerknitterter Lederbeutel und darin lag ein kleiner schwarzer Fotoapparat. Kurz blitzte der abwegige Gedanke auf, dass er Opa gehört haben konnte, doch war das nicht möglich. Es war eine digitale Lumix-Kamera, und als die auf den Markt kamen, hatte Opa höchstwahrscheinlich nichts mehr fotografiert und fuhr auch nicht mehr aufs Land. Die Batterie war leer, wir konnten den Apparat nicht einschalten. Der einzige Hinweis auf seine Herkunft konnte auf der Speicherkarte verborgen sein. Um das jedoch herauszufinden, mussten wir uns gedulden, bis wir wieder in der Stadt sein würden und an den Computer kämen.

###

Zurück in der Stadt steckten wir die Speicherkarte ungeduldig in den Computer und sagten uns, „da ist ja sicher nichts Besonderes drauf“. Vermutlich ein paar Bilder, die im Dunkeln am Mittsommerfeuer aufgenommen waren oder eine Ansicht vom Meer. Eigentlich war auch tatsächlich nichts Bemerkenswertes an den Aufnahmen, aber es waren auch keine alltägliche Bilder von Natur, Alltag oder Festlichkeiten.

1. Fotografie
Im ersten Augenblick scheint es, dass da nur Wald ist, oder eher ein unwegsames Gestrüpp. Es gibt so gut wie keine Farben, das Bild ist fast schwarzweiß, entweder während eines dunkel bewölkten Tages oder in der Abenddämmerung nach einem trüben Tag aufgenommen. Zu beiden Seiten bilden Bäume und Sträucher eine schwarze, fast undurchsichtige Wand, die nur in der Mitte des Bildes lichter wird und abfällt: dort ist eine Schneise, die von niedrigeren Büschen überwachsen ist. Darauf stehen zwei Strommasten. Der Ort scheint bekannt, jedoch grübeln und raten wir eine gute Weile, bis wir verstehen, was und aus welcher Position der unbekannte Fotograf fotografiert hat. Wenn man sorgfältig hinsieht, kann man in der linken Hälfte hinter dem Astgewirr ein winziges aufgestelltes Dreieck entdecken. Das ist der Dachfirst unseres Hauses. Es ist unverständlich, warum jemand auf die Idee kam, so ein Bild zu schießen, und ebenso, wie der Fotograf diesen Blickwinkel gefunden hat – auf der Seite gibt es nur undurchdringliches Dickicht oder Morast, ständig überschwemmt und voller Mücken, dort wachsen weder Pilze noch Beeren noch findet sich dort sonst etwas, was der Beachtung wert wäre. Etwas rechts vom Dreieck des Dachfirsts, zwischen einem der Strommasten und der zweiten Mauer aus Unterholz ist so etwas wie eine kleine weiße Figur zu erkennen, doch das ist vielleicht eine optische Täuschung oder ein technischer Defekt. Wir versuchten, das Bild soweit es nur ging zu vergrößern, aber alles, was wir darauf sahen, war ein Gewirr von grauen, weißen und schwarzen Krümeln. Wenn wir wieder aufs Land fahren, müssen wir versuchen, diesen Blickwinkel zu finden.
[..]

Pauls Bankovskis‘ Roman 18 ist der zweite Band einer Serie, in der lettische Schriftsteller der Gegenwart jeweils ein Stück Geschichte des 20. Jahrhunderts in einen Roman verwandeln. Bankovskis nähert sich dieser Aufgabe in ungewöhnlicher Weise, indem er die Unmöglichkeit, vergangenes Geschehen aus der Innenperspektive darzustellen, thematisiert. Er schreibt dazu: „Zu einer natürlichen Äußerungsform des Romans wurden daher Tagebucheinträge. Einer der Tagebuchschreiber ist ein Augenzeuge der Geschehnisse der Jahre 1917 und 1918, der andere lebt in der Jetztzeit. Der eine erlebt Ungewissheit und Vermutungen nicht nur in Bezug auf den kommenden Tag, sondern häufig auch auf das, was in der Gegenwart geschieht. Der andere macht seine Erfahrung mit dem Nichtwissen, als er versucht, Zeugnisse der Vergangenheit und ihren Bezug zur gegenwärtigen Wirklichkeit zu verstehen.“

Mehr zu diesem Roman und der Serie gibt es im November auf dieser Seite.

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