aus: Pauls Bankovskis: 18.
Rīga: Dienas Grāmata, 2014
Aus dem Lettsichen von Nicole Nau

Geschichte
„Es war ein kalter Novemberabend, der Wind rüttelte an den Ladenschildern und die Kälte kroch durch meinen löchrigen Mantel, dass ich zitterte,“ schreibt Aleksanders Grīns (1895-1941) in seiner Erzählung „Die Auferstehung“. „Ich ging langsam am Kanal entlang in Richtung Zitadelle, während der Wind mir trockenes Laub unter die Füße warf. Am Russischen Theater blieb ich stehen und starrte verständnislos auf die seltsame Fahne, die am Balkon flatterte. Rot-weiß-rot züngelte sie da wie ein dunkel funkelndes Feuer; doch in den Fenstern war kein Licht, alle Straßen um das Theater herum waren leer und ich sah niemanden, den ich hätte fragen können, was das für eine Fahne war. Und dann hörte ich ein leises Rauschen von der Kanalallee heraufsteigen, wie das Rascheln trockener Blätter, die der Wind vor sich hertrieb, oder die vielleicht von den Tritten eines in der abendlichen Dunkelheit nicht zu sehenden Passanten aufgewirbelt wurden. […] Ich ließ mich beim Eingang zum Theater auf das Trottoir fallen, um Atem zu schöpfen und die müden Beine auszustrecken und betrachtete im Schein des wieder aufgetauchten Mondes erneut die Fahne, die nun genau über meinem Kopf flatterte und dabei auf den kleinen Platz vorm Theater große Schatten warf, die dem Hin und Her der Fahne folgten. […] Die Kälte, die mich meinen brüchigen Soldatenmantel fester um mich ziehen ließ, schien weder vom Boden noch aus der Luft zu kommen. Sie strömte vielmehr von den massiven Riesengestalten, die auf ihren Schultern das Gewicht des Balkons trugen, aus; und als ich unwillkürlich zu ihnen hinsah, erblickte ich im Türschatten einen dritten, der sich in Bewegung setzte und mit unhörbaren leichten Schritten auf mich zu kam. Und mich überkam erneut ein Frösteln und zugleich Verwunderung, denn der Fremde hatte keinen Schatten, obwohl jetzt der Mond wieder schien, und eine Grabeskälte begleitete ihn.“
Das hier Dargestellte spielt am 18. November 1918. Gut möglich, dass der Schauder, den diese und mehrere andere in der Kindheit gelesene Erzählungen von Aleksanders Grīns in mir auslösten, ein Grund war, warum ich mir aus der Geschichte Lettlands für meinen Roman die Geburtsstunde des lettischen Staats ausgesucht habe.
Unsere Vorstellung über das Geschehen in jenem Herbst unterscheiden sich jedoch für gewöhnlich stark von der Stimmung, die Grīns heraufbeschwört. Wir sehen die feierlich ernsten Gründer des lettischen Staates, die auf den Fotographien von Vilis Rīdzinieks verewigt sind, eine weit ausgespannte rot-weiß-rote Fahne und die mit Zimmerpflanzen geschmückte Bühne des heutigen Nationaltheaters. Den Moment davor und danach, oder das Geschehen jenseits der Wände des Theaters betrachten wir am liebsten als Einleitung zu diesem Moment, als Kapitel, die vorher oder nachher geschrieben wurden, als Fußnoten oder Nachworte.
Jedes Jahr werden am 18. November lettische Fahnen gehisst und offizielle Feierstunden abgehalten, vielleicht gibt es auch weniger feierliche, dafür aufrichtigere Feiern im Freundes- und Familienkreis. Kein Wunder, dass uns jetzt auch der ferne 18. November 1918 als ein großer Tag erscheint, einer, an dem der Geburtstag des lettischen Staates von allen gefeiert wurde. Und nur selten denken wir daran, dass es damals nicht allzu viele Feiernde gegeben haben kann. Großartigkeit wird Ereignissen häufig erst im Nachhinein zugeschrieben, bedeutsame Details erkennen wir erst dann, wenn alles schon vorbei ist.
Stellen Sie sich jenen Herbst vor. Der Krieg ist angeblich vorüber (der Waffenstillstand zwischen Deutschland und der Entente wurde am 11. November unterzeichnet), doch im Grunde geht er weiter – der Frieden von Versailles wird erst am 28. Juni 1919 geschlossen, und Lettlands Freiheitskampf dauert in Lettgallen noch bis zum Sommer 1920 an. Kurland und Riga sind am 18. November 1918 in deutscher Gewalt. Ein Jahr zuvor hatten sich Zehntausende aus diesen Gebieten auf die Flucht begeben und waren immer weiter nach Osten geflohen; mehr als einen von ihnen verschlug es sogar bis an die Ostgrenzen des europäischen Kontinents. Gleichzeitig wuchs von Russland her der Druck durch die Bolschewisten. Inmitten all dieses Durcheinanders, inmitten von Zerstörung, Hoffnungslosigkeit und Todesgefahr tritt nun ein Grüppchen Letten zusammen und gründet einen eigenen Staat, obwohl etwas Derartiges noch ein Jahr zuvor vielen unmöglich erschienen war.
Von diesem Moment trennen uns fast 100 Jahre, und doch kehren wir immer wieder zu der Frage zurück, auf die jene Männer, die am 18. November 1918 die Bühne betraten, die Antwort anscheinend schon hatten. Nämlich: wofür brauchen wir einen eigenen Staat?
Erinnerung
Erinnerung ist ein unverzichtbarer Teil historischer Aufzeichnung, und doch können wir dieser unserer Fähigkeit, Fertigkeit oder Bürde nicht einfach trauen. Dinge, die man nicht aufschreibt oder jemandem erzählt, werden leicht vergessen, doch wenn wir uns an etwas erinnern, sind wir immer versucht, auch das, was wir nicht selbst erlebt, sondern nur irgendwo gehört oder gelesen haben, einzuschließen.
Vom 18. November 1918 und der Zeit davor zeugen Dokumente, Redeentwürfe, Notizen, später entstandene Arbeiten von Historikern und vieles andere. Das Theatergebäude steht noch an seinem Platz, auch die Straßen sind noch dort, wo sie waren, wenn sie jetzt auch andere Namen tragen; daneben befinden sich noch immer der Stadtkanal und der Hügel Bastejkalns und, wer weiß, vielleicht steht auch noch einer der Bäume von damals im Park.
Und doch kann niemand sich durch die Zeiten schlagen und an genau dieser Stelle wieder landen. Für Augenzeugen ist es zu spät. Der Schriftsteller, der über die Ereignisse dieser selbst nicht erlebten Vergangenheit schreiben will, steht vor einer schwierigen Entscheidung.
Soll ich schwindeln und fremde Leute so sprechen und handeln lassen, wie ich mir das Geschehene vorstellen möchte? Oder soll ich mich lieber nur an verbürgte Quellen halten und auf so interessante Dinge wie ein Sujet, persönliche Beziehungen zwischen den Hauptpersonen und die Welt ihrer Gefühle verzichten – also auf alles, was man in einem literarischen Werk erwartet?
Die Form meines Romans ist das Resultat solcher Überlegungen. Ich habe verstanden, dass eben die Spannung des Nichtwissens, die zwischen den Realia der Gegenwart und der Vergangenheit herrscht, zur Grundlage dieses Buchs werden musste. Diese Spannung kennen sowohl Historiker als auch Archäologen, wenn es darum geht, ein Bruchstück eines unverständlichen Texts zu entziffern oder die Bedeutung eines Gegenstands mit unbekannter Funktion zu ergründen. Ich entschied, dass dieser Roman ein Ideenroman ohne Melodram werden würde – die romantischen Nebenlinien verschwammen irgendwie und fielen von selbst heraus.
Zu der erwähnten Spannung trägt auch der Unterschied im Tempo heute und vor 100 Jahren bei. Wenn auch damals Telefon und Telegraf schon erfunden waren, Zeppeline am Himmel schwebten und Flugzeuge durch die Luft sausten, Dampfer über die Meere glitten und Lokomotive Züge durch das Land zogen, war die Welt doch immer noch langsam und groß, ihre Enden gewaltig voneinander entfernt.
In unserer von Fernsehnachrichten und sozialen Netzwerken bestimmten Zeit erscheint es selbstverständlich, dass die Nachricht von einem tragischen Verkehrsunfall in Asien, einem Aufstand auf einem Markt im Nahen Osten oder einem Raubüberfall in Lettland innerhalb weniger Minuten oder sogar Sekunden durch die ganze Welt jagt. Etwas nicht zu wissen ist heute kein Zeichen von Einfalt oder Bildungsmangel – Nichtwissen wird im Gegenteil oft schon als Zeichen eines besonders raffinierten oder disziplinierten Lebenswandels angesehen.
Vor 100 Jahren war das anders. Die Menschen, die Kurland oder Riga in Eile verlassen hatten und gen Osten flohen, konnten schon nach ein paar Dutzend Werst nicht mehr wissen, was zu Hause los war. Je mehr sie sich von den größeren Siedlungen entfernten, desto unklarer wurde für sie auch, was sie auf dem weiteren Weg noch erwartete. Ängste, Zweifel, Hoffnungen, Gerüchte verbreiteten sich über verschlammte oder verstaubte Wege, durch Wälder und Felder genau wie heute über das Internet. Nur langsamer. Aber für das Nichtwissen ist die Geschwindigkeit ohne Bedeutung – wichtig ist nur der Platz, den wir ihm einräumen, wenn wir ihn nicht mit Wissen füllen können.
Zu einer natürlichen Äußerungsform des Romans wurden daher Tagebucheinträge. Einer der Tagebuchschreiber ist ein Augenzeuge der Geschehnisse der Jahre 1917 und 1918, der andere lebt in der Jetztzeit. Der eine erlebt Ungewissheit und Vermutungen nicht nur in Bezug auf den kommenden Tag, sondern häufig auch auf das, was in der Gegenwart geschieht. Der andere macht seine Erfahrung mit dem Nichtwissen, als er versucht, Zeugnisse der Vergangenheit und ihren Bezug zur gegenwärtigen Wirklichkeit zu verstehen.
Ein Tagebuch ist eine völlig subjektive Äußerungsform. Selbst diejenigen Schreiber, die vielleicht heimlich hoffen, dass ihre Einträge einmal von der Nachwelt gelesen werden, können es sich in ihren Tagebüchern erlauben, selbstgerecht zu sein, auf Objektivität zu pfeifen, an ihrem Nichtwissen zu leiden und in Irrtümern zu versinken. Da sie in erster Linie für sich selbst schreiben, werden Tagebuchschreiber, häufig ohne es selbst zu merken, zu noch unglaubwürdigeren Erzählern als all die unglaubwürdigen Erzähler, Phantasten und Lügner, die von Schriftstellern so gern zu den Helden ihrer Werke gemacht werden.
Landschaft
Wenn ich schreibe, stelle ich mir gerne schwierige Aufgaben, die manchmal anfangs völlig unlösbar scheinen. Naturbeschreibungen in literarischen Werken stehe ich zurückhaltend (um nicht zu sagen: ablehnend) gegenüber, schon seit den Zeiten schulischer Pflichtlektüre. Ich weiß gut, dass ich in dieser Beziehung nicht allein dastehe. Meine Abscheu vor Naturbeschreibungen ist jedoch wohl besonders heftig, denn ihretwegen habe ich mich zum Beispiel nie für Tolkins Herrn der Ringe begeistern können (seine Fans mögen mir verzeihen).
Diesmal wollte ich mich überwinden, und daher nehmen Vorgänge in der Natur einen nicht unerheblichen Raum in diesem Roman ein. Allerdings ist das nicht zum Selbstzweck oder, wie einer meiner Helden vielleicht sagen würde, nur zum Sport geschehen.
Die Landschaft um uns, wenn auch zersiedelt, verändert, zerstört, umgestaltet, ist um vieles älter als wir (jede einzelne Generation) und höchstwahrscheinlich hat uns die Landschaft viel mehr geprägt als wir sie. In gewisser Weise ähnelt unsere Landschaft unserer Sprache, denn, auch wenn wir uns das gerne vorstellen, sie ist nicht von uns gemacht. Und sie ist auch nicht unser Eigentum. Durch irgendwelche Zufälle sind uns beide für kurze Zeit in die Hand gegeben. Und das einzige, das wir tun können und müssen, ist uns zu bemühen, dass wir nicht alles völlig ruinieren und verlieren.
Da ja ein Teil der zu beschreibenden Geschehnisse weit zurücklag und für mich nicht greifbar war, war es mir wichtig, dieses Nichtwissen mit etwas physisch Erfahrbarem, Greifbarem auszugleichen, etwas, das ich aus eigener Erfahrung kenne. Deshalb sind alle beschriebenen Landschaften so weit wie möglich authentisch und können aufgefunden werden. Was dort zu sehen ist, beruht auf meinen Beobachtungen oder auf denen anderer, die darüber berichtet haben.
Lettland ist verhältnismäßig klein, selbst seine äußersten Grenzen sind nicht wirklich weit voneinander entfernt. Davon habe ich mich selbst überzeugt, indem ich in wenigen Tagen von Riga nach Valka wanderte. Im Roman habe ich, im Bemühen, das ganze Gebiet des am 18. November 1918 gegründeten Staates zu umfassen, dem Flüchtlingszug in Richtung Valka eine Bewegung gegenüber gestellt, die von Riga weg in westliche Richtung führt, zu den livischen Dörfern in Kurland. Ich hatte das Glück, viele meiner Sommer in Miķeļtornis verleben zu können. Dort ist auch ein großer Teil dieses Romans entstanden und es war irgendwie selbstverständlich, dass die erste unmögliche Begegnung zwischen den beiden in zwei unterschiedlichen Zeiten lebenden Figuren dieses Romans dort stattfindet.
Schon immer wichtig im Alltag der Letten war, was und wie gegessen wird. Essen und Trinken werden in meinem Roman weder zufällig erwähnt noch als Tribut an die im Zeitalter der sozialen Medien so verbreiteten Mode, ständig über Essen zu reden oder Essen zu fotografieren. Ich vergesse nie, wie mir ein im Ausland lebender Verwandter erzählte, wie ihn bei seinem ersten Besuch in Lettland, noch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die Kochkünste der hiesigen Letten und ihr Bemühen, den Gast eben mit Essbarem zu beeindrucken, überrascht hatten. Es wurde das Beste aufgetischt, was man nur hatte ergattern können, und mir scheint, in dieser Tradition – Gäste sogar in Zeiten der Armut und der Not reich zu bewirten – versteckt sich eine Art primitives, schon lange nicht mehr zu erklärendes Wissen. Schwer zu sagen, wie die rituelle Bewirtung der Seelen im Herbst sich zu dieser Weisheit verhält, ob vielleicht auch die Seelen Verstorbener einst einfach als Gäste angesehen wurden, als Reisende auf einem langen Weg.
Ich schreibe dieses Nachwort am Abend des 23. Augusts, am 25. Jahrestag des „Baltischen Wegs” von 1989. Im Radio werden den ganzen Tag Erinnerungen von Teilnehmern dieses Ereignisses gesendet, Jubiläumsveranstaltungen werden angekündigt, Reporter berichten aus Litauen und Estland. Ich war damals 16 und hatte gerade die Aufnahmeprüfung für das Kunstgewerbe-Gymnasium bestanden. Eine Woche später sollte ich in Riga mit der Oberstufe anfangen, was bedeutete, dass ich zunächst zur Erntehilfe auf die Rübenfelder der Kolchose von Salaspils geschickt wurde. Die Kolchose stand noch dort, wo sie immer gewesen war, mein größter Ehrgeiz aber war, einen Auseklītis an meine Nylonjacke stecken zu können. Der Auseklītis, das Morgensternchen, war eine ziemlich große Anstecknadel aus Email, die vermutlich heimlich in der Werkstätte Daiļrade hergestellt wurde. Irgendwer hatte schon damals eine Versorgungslücke entdeckt und mit der Produktion dieses Attributs der nationalen Bewegung den Weg zur Verbrauchergesellschaft eingeschlagen. „Wenn die Russen dich erwischen, lassen sie dich den Anstecker runterschlucken,” sagte mir ein Kommilitone. Geschichte ist nicht Vergangenheit, die von Vergessen bedroht ist. Geschichte ist das, was in der Gegenwart übrig bleibt – in jedem von uns, in der Landschaft, in der Sprache.
„Heute wird in diesem Haus die Auferstehung Lettlands verkündet, dies ist ihre Fahne, und unsere Brüder, die im Tirelis-Sumpf ruhen, werden aus den Gräbern steigen und von Neuem in den Kampf ziehen, wenn die Lebenden es nicht verstehen, dem Vaterland zur Hilfe zu kommen,” sagt das Phantom, auf das der Held von Grīns’ Erzählung beim Theater trifft. „Die Stimme verklang wie das Rauschen von Blättern, der Sprecher verschwand zwischen Mondschein und Fahnengeflatter, und ich ging fort, um den Ort zu finden, an dem ich mich melden konnte als einer, der bereit war dem Vaterland nochmals zur Hilfe zu eilen, diesmal als dieses Landes eigener Sohn und Soldat. Und das Rauschen trockener Blätter, in dem die Stimmen der im Kampf gefallenen Freunde zu hören waren, begleitete mich durch jene Nacht.”
Miķeļtornis, 23. August 2014