Ja, auch in Lettland gibt es einen Weinberg, einen kleinen, der auf offiziellen Fotos so aussieht:

Hier hat der Erzähler in Jean-Paul Kauffmanns wunderbarem Buch über Kurland ein Schlüsselerlebnis, das ich so schön fand, dass ich ausnahmsweise mal aus dem Französischen übersetze:
Jean-Paul Kauffmann: Courlande. Fayard 2009.
Ausschnitt aus dem Französischen übersetzt von Nicole Nau
Der Professor und ich beschließen, den Hang bis zu seinem Gipfel zu erklimmen. Der junge Mann mit den weißen Joggingschuhen begleitet uns, der Typ mit dem Babygesicht auch. Der Aufstieg ist holperig. Der junge Mann, der seine schönen unbefleckten Schuhe nicht beschmutzen will, plagt sich mehr als wir, denn er versucht um jeden Preis, den feuchten Flecken von Ton im Boden auszuweichen. Die Aussicht über das Dorf und über das stählerne Band des Flusses bezaubern mich. Eine solche Landschaft ist ungewöhnlich für Kurland, das sich zumeist durch eine Horizontalität auszeichnet, die auf Dauer monoton erscheinen kann. Der Boden verströmt einen morastigen Geruch; er kontrastiert mit den Aromen, die der Wind aus dem Tal heraufbringt: würziger Wacholdergeruch, welker Duft von ferner Heuernte, im Abgang grünes Laub.
Man macht uns Zeichen von unten. Wir schenken ihnen nur flüchtige Beachtung. Der Blick von oben verändert alles. Der Babygesichtige stützt sich auf einen der Pfirsichbäume, die den Hügel säumen. Er schließt die Augen und atmet tief ein. Der junge Mann beschaut sich seine gewellten Sohlen: der Schlamm hat sich darin festgesetzt, aber er scheint glücklich zu sein, dass er dabei ist, auf dem Gipfel, über dem Weinberg. Der Professor murmelt ein paar Worte auf Deutsch: „Vernunft sei überall zugegen, Wo Leben sich des Lebens freut. Dann ist Vergangenheit beständig, Das Künftige voraus lebendig, der Augenblick wird Ewigkeit.“ Netterweise übersetzt er es mir gleich. Anscheinend ist das aus einem sehr bekannten Gedicht von Goethe, „Vermächtnis“. „Ja, nur die Gegenwart zählt, denn sie ist das einzige, auf das wir Einfluss haben.“
Ich notiere mir diesen Vers in meinem Notizheft. Wir vier schauen uns an wie Komplizen. Was haben wir getan? Aus der Nähe betrachtet wirkt der Hügel eher bescheiden, es gibt tatsächlich einen Weinberg, aber er ist winzig. Der Aufstieg selbst war nur anfangs etwas beschwerlich, und man muss wohl zugeben, dass wir nicht das Dach der Welt erreicht haben – der junge Mann präzisiert für alle Fälle, dass sich der Gipfel des Hangs auf einer Höhe von dreihundert dreißig Metern über dem Meeresspiegel befindet.
Warum haben wir dann das Gefühl, einen Moment der Fülle zu erleben? Nur vier von uns haben den Aufstieg gewagt. Wir fühlen uns privilegiert. Die Anstrengung hat uns leicht gemacht. Hier oben fühlen wir uns von der Schwerkraft entbunden, so als hätten wir die Erde am Fuße des Hügels zurückgelassen.
Ein Storch fliegt mit gestrecktem Hals über uns hinweg. Nicht ohne Neid folge ich seinem schwebendem Flug. Dann rufe ich mich zur Raison: muss ich denn noch höher hinauf? Der Professor wartet ab, bis der Vogel auf seiner Höhe ist, um ihn dann durch fröhliches Winken zu grüßen. Der Weg der Weisheit: er sieht weder nach vorn noch zurück, weder nach oben noch nach unten; der Professor versteht es offensichtlich, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.
An diesem sehr späten Nachmittag steht die Sonne noch hoch am Himmel, die Luft flimmert, vom Dorf erklingen Laute, die gleichzeitig sanft und gespannt sind, ähnlich wie die von Schlaginstrumenten: leichte Hammerschläge, kurzes Gehupe, weiches Traktorenknattern, der Zahn einer Säge, die Holz attackiert. Dieses Hintergrundrauschen hallt plötzlich in mir wie eine Erleuchtung. Ich fühle mich eins mit der Welt. Vielleicht ist das der Moment, in dem ich mein erstes wahres Bild von Kurland erhalte, mein perfekter Augenblick, ein vertrautes Bild ohne Schlösser, ohne Geschichte, ohne Goldrahmen. Es könnte irgendwo in Europa sein.
Das Buch „Courlande“ von Jean-Paul Kauffmann ist 2009 auf Französisch erschienen, aber früher geschrieben – es beschreibt die Eindrücke der ersten Lettlandreise des Autors irgendwann in den Neunzigern. Auf Englisch kam es unter dem Titel „A Journey to Nowhere“ heraus, was nicht (nur) die Einstellung der Briten zu den baltischen Ländern bzw. ihren Wissenstand darüber reflektiert, sondern durchaus zu dem Schwebezustand, in den uns der Text versetzt (siehe den Storch im obigen Ausschntt), passt. Vielleicht wäre Neverland noch präziser… Eine sehr schöne Rezension hat der Blogger Winstonsdad geschrieben (diesen eigenwilligen, starken Blog habe ich überhaupt dadurch entdeckt, sehr zu empfehlen):
Well this book is one of those books that could sit on the shelf next to my Bruce Chatwin’s ,W g Sebald’s or last years favourite Edmund de Waal .It is one of those books where the narrative digresses here and there , in fact in this book they drift from the grand past of Courland to the grey post communist Latvia as we see Jean-Paul ,piece it all together in piffy chapters .I found he had a dry humour and a very keen eye on the world around him picking small details up and expanding them out . Almost like a clever tie together of great blog post written about this place but these are all written by Jean-Paul but each chapter seems like another piece of a huge jigsaw .So if you want to see what happens to the little country of europe maybe read this ,I was reminded of the film the Mouse that roared this little place had manage to go out to Africa and the Caribbean and set up shop .one for all lover of travel with history books I think any way .. https://winstonsdad.wordpress.com/2012/07/12/a-journey-to-nowhere-by-jean-paul-kauffmann/