Mitunter fliegen die Seen aus der Folklore auch in die moderne Literatur. Wie in diesem Roman von Pauls Bankovskis, dessen Anfang schon in einem früheren Beitrag zu lesen war.
Pauls Bankovskis: Offshore.
Rīga: Valters un Rapa, 2006
Auszug. Übersetzt von Berthold Forssman
[Ende von Kapitel 5]
Sicherheitshalber sah ich noch einmal hinunter. Wenn das jetzt nur ein Trugbild war, und keine Insel? Aber die Insel war noch immer genau am selben Fleck, nur dass wir inzwischen schon über sie hinweg geflogen waren, und in wenigen Augenblicken würde ich sie schon nicht mehr sehen können. Ich wusste, dass der Flugbegleiter gleich wieder zurückkommen und irgendeinen Namen nennen würde, der mir vollkommen gleichgültig war und den ich noch nie zuvor gehört hatte. Vielleicht würde ich auch ein paar Informationen über die Zahl der Einwohner, deren Religionszugehörigkeit und die klimatischen Verhältnisse auf der Insel zu hören bekommen. Aber in mir erwachte die Sehnsucht, der Steward möge meine Bitte vergessen haben. Oder es möge etwas dazwischenkommen, und er würde mein Anliegen zwangsläufig vergessen. Vor allem darum, weil ich die Umrisse der Insel gesehen hatte. Nein, es war nicht ihr Gesicht, ganz und gar nicht. Es war überhaupt kein Gesicht.
Aber ich kannte diese Konturen. Und umso mehr wünschte ich, ich hätte niemals den Flugbegleiter gerufen und er möge nicht versuchen, mir auf meine Frage zu antworten.
10
„Mein“ – Sie sehen, ich bin ein anhänglicher Mensch – „mein“ Flugbegleiter kam tatsächlich nicht zurück. Das Flugzeug machte einen Satz und fiel dann steil ab, als sei es gegen etwas geprallt.
„Hier spricht der Kapitän“, schnaufte eine Stimme im Lautsprecher. „Meine Damen und Herren, wir überqueren eine Zone mit starken Turbulenzen. Für die daraus resultierenden Unannehmlichkeiten bitten wir um Verzeihung.“
Als seien die Turbulenzen ein Verdienst des Piloten.
Im selben Augenblick brach in der Maschine Panik aus.
„Rauch! Rauch!“, kreischte eine grauhaarige Dame mit einer Nase wie ein Hühnerschnabel und einer großen Brille.
„Feuer! Wir brennen!“, fiel ein kleiner Mann in einem karierten Jackett ein, der auf der anderen Seite des Ganges saß. Er sprang sogar auf und drückte seine Nase an der Scheibe platt. Was immer auch gerade passiert sein mochte, er brannte jedenfalls nicht. Und ich auch nicht. Wen also meinte er mit „wir“?
Die Insel war inzwischen verschwunden. Die Spitze des Flugzeugs neigte sich unmissverständlich nach unten, die Geschwindigkeit nahm zu.
„Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän. Wir bitten Sie, Ruhe zu bewahren. Es besteht nicht der geringste Anlass zu Panik. Leider sind wir gezwungen, eine Notlandung auf dem Wasser vorzunehmen.“
„Meine Damen und Herren“, stimmte die Flugbegleiterin ein, „bitte überzeugen Sie sich davon, dass Ihre Sicherheitsgurte angelegt sind, ihre Tische hochgeklappt sind und Ihre Rückenlehnen senkrecht stehen. Wir bitten Sie, die Notlandungshaltung einzunehmen. Beugen Sie sich nach vorne, stützen Sie die Ellbogen auf Ihre Knie und legen Sie die Hände in den Nacken. Wir bitten Sie außerdem, hochhackige Schuhe auszuziehen und Ihr Handgepäck zurückzulassen.“
„Was soll das denn?“, versuchte ich Einspruch zu erheben, doch offenbar hörte mich niemand. „Und was ist mit den überlebensnotwendigen Dingen? Mit den Sachen, die man auf eine einsame Insel mitnehmen würde? Auf den Mars?“
„Wir weisen Sie darauf hin, dass unser Flugzeug über sechs Notausgänge verfügt“, fuhr die Flugbegleiterin fort. „Die Position der Notausgänge ist mit leicht erkennbaren Zeichen markiert. Im Fall einer Notlandung auf dem Wasser bitten wir Sie, die Schwimmwesten anzulegen, die Sie unter Ihren Sitzen finden. Blasen Sie die Westen erst nach Verlassen des Flugzeugs auf. Die Weste wird aufgeblasen, indem Sie an dem Ring ziehen. Später können sie die Luftmenge in der Weste ergänzen, indem Sie in das Mundstück blasen. Die Pfeife benutzen Sie, um gegebenenfalls die Rettungsmannschaft auf sich aufmerksam zu machen. Wenn es im Fahrgastraum zu einer Rauchentwicklung kommt oder der Luftdruck abfällt, verwenden Sie die Sauerstoffmasken, die automatisch von oben zu ihrem Sitz herunterfallen. Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass dies ein Nichtraucherflug ist.“
„Was, gibt es heutzutage überhaupt noch Raucherflüge?“, fragte ich, aber wieder hörte niemand meine Frage. Über den Köpfen der Passagiere leuchtete mit einem lauten „ping“ das Symbol mit der durchgestrichenen Zigarette auf.
„Für diesen Flug erhalten Passagiere, die am Bonuspunkteprogramm unserer Gesellschaft teilnehmen, 2.500 Punkte, wenn sie in der Business class fliegen, und 1.200 Punkte, wenn sie in der Economy class fliegen. Die Ortszeit ist zwölf Uhr und vierzig Minuten.“
„Was für ein Ort?“ Ich verstand überhaupt nichts mehr. „Weiß denn wenigstens jemand, wo wir überhaupt sind? Gerade war da unten eine Insel, aber niemand …“
„Wir bitten Sie, Ruhe zu bewahren. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Notlandung und Evakuierung.“
Natürlich bewahrte niemand auch nur ansatzweise Ruhe. Die Zwischenrufer von vorhin waren inzwischen in echte Panik verfallen, obwohl es nach wie vor weder zu einer Rauchentwicklung gekommen war noch irgendwo Feuer zu bemerken war. Dafür beschleunigte das Flugzeug immer weiter, und das Vorderteil fiel immer stärker ab.
„Wir bitten dich Gott, wir flehen dich an“, mahnte die Frau mit der hühnerschnabelartigen Nase. Der Großteil der Passagiere war mittlerweile auf denselben Gedanken gekommen. Zumindest ließ das hysterische Gekreisch und Gejammer nach.
„Lieber Herr und Gott …“, hub sie an, und in diesem Augenblick erfasste die Panik auch mich, und zwar richtig heftig. Woher wusste die Dame bloß, dass genau das die richtigen Worte waren, in eben dieser Reihenfolge? In dieser Form, laut und eindrücklich genug vorgetragen, würden sie zu Gott vordringen, ihn ansprechen und davon überzeugen, dass nun die Zeit gekommen sei, sich tatsächlich einzumischen. Denn es wurden nun so viele unterschiedliche Schicksale, verpfuschte Biografien, Tragödien und Sorgen vorgetragen, und bestimmt versuchte jeder auf seine Art, irgendwelche Phrasen, Bitten, Notrufe oder sogar Flüche durch die Himmelsbürokratie bis zu Gott selbst vorzubringen.
„Wie können Sie das wissen?“, versuchte ich die Frau zu unterbrechen. „Schweigen Sie, um Himmels willen! Wie können Sie das wissen, woher haben Sie einen solchen Glauben?“
Doch niemand schien etwas zu wissen. Die Passagiere ringsherum wiederholten gehorsam die Worte des Gebets.
„Ihr werdet alle untergehen! Vielleicht ist euer Gebet genau wie ein Stecker, der für eine 110-Volt-Steckdose bestimmt ist und den ihr stattdessen in eine 220-Volt-Steckdose steckt. Ist euch das vielleicht noch gar nicht in den Sinn gekommen? Diese Zweifel, diese ewigen Zweifel. Und dieses Unwissen!“
Das Flugzeug verlor immer weiter an Höhe. Ja, zumindest daran gab es keinerlei Zweifel. Ich sah zum Fenster hinaus. Wolkenfetzen sausten vorbei. Von irgendwoher waren auf einmal wieder Wolken gekommen, dachte ich, aber ich begriff sofort, dass das keine Wolken waren, sondern Wasserspritzer. Seen. Fliegende Seen, die mit ihrem Gewicht unser Flugzeug immer tiefer hinabdrückten. Seen, die noch keine richtigen Namen hatten und die in diesem Zustand durch die Lüfte zogen, Flugzeuge einfingen und dabei ab und zu Katastrophen auslösten.
Wenn man jetzt nur die richtigen Worte finden würde, die richtigen Worte für Gott und für die vielen Seen, dann könnte alles doch noch gut enden, und wir würden mit dem Leben davonkommen. Die Gebete zu Gott überließ ich den übrigen Passagieren und beschloss stattdessen, mich an die Seen zu wenden.
„Dūņezers, Melnezers, Velnezers, Ežezers“, zählte ich eine Reihe lettischer Seen auf. Keiner schien der Richtige zu sein, doch ich würde nicht so leicht klein beigeben.