ar visiem valsts svētkiem
aizmirsās veļus pabarot

Im November hat Lettland Geburtstag. Am 18.11.1918 wurde die lettische Republik ausgerufen, nachdem jahrhundertelang fremde Gewalten über die Bewohner dieses Landes geherrscht hatten. Die Vorbereitungen zur Hundertjahrfeier im kommenden Jahr haben schon im vorigen angefangen. Heuer können wir die 99 noch etwas ruhiger feiern, wie es der lettischen Natur im November entspricht. Lettisch valsts svētki = Staatsfeiertag.
Im November wandern die Seelen der Verstorbenen übers lettische Land. Man sieht sie manchmal schemenhaft im Abendnebel oder hört sie im Dunklen durchs Laub rascheln. Auf Lettisch heißen diese wandernden Seelen veļi. Das Jahr über leben sie in ihrem eigenen Land und gehen dort ähnlichen Tätigkeiten nach wie die lettischen Bauern. Im Oktober, November, mancherorts noch im Dezember, besuchen sie ihre Nachfahren. Diese decken ihnen einen Tisch mit Essen und Trinken und ziehen sich dann respektvoll zurück, damit die Veļi ungestört unter sich sein können. Lettisch pabarot veļus = den Veļi Essen geben, die wandernden Seelenwesen füttern.
Wenn man dieses Vorwissen voraussetzt, könnte man die eingangs zitierte Zeile aus Knut Skujenieks Gedicht vielleicht so übersetzen:
Über all dem Staatsfeiertag
vergaß ich glatt die Ahnen zu bewirten.
Aber das gibt nichts von der Stimmung wieder, es fehlen die lettischen Novemberassoziationen. Kalter Nebel. Schatten, die durch die dunklen Abende wandern. Ahnen und Ahnungen. Und dahinein ein ungeahntes politisches Ereignis: eine Staatsgründung! Das verträumte Land wird zur Repulik! Bauern werden Bürger! Die lettischrote Fahne mit dem weißen Streifen wird zur Staatsflagge!
Die Veļi haben das vielleicht geahnt. Denn auf Christian Rohlfs‘ Zeichnung „Fabelwesen“ (aus dem Skizzenbuch „Hagen“, Kunsthalle zu Kiel) sehen wir flatternde Wesen, deren Flügel und Körper zu Fahnen in den Farben der baltischen Staaten werden – oben das Blau-Schwarz-Weiß der Esten (Staatsgründung 24.02.1918), unten etwas weniger deutlich das Gelb-Grün-Rot der Litauer (Staatsgründung 16.02.1918), mittendrin, klar und fröhlich, das Rot-Weiß-Rot der Letten. Dieses spezielle Rot heißt sogar Lettischrot, lehrt mich Wikipedia.
Aber kann das denn sein? Der deutsche Künstler Christian Rohlfs scheint keine besondere Beziehung zum Baltikum gehabt zu haben (außer vielleicht über die aus Riga stammende Tänzerin Tatjana Barbakoff, der er einen ganzen Zyklus widmete). Aber die Zeichnung stammt aus dem Jahre 1906, und da gab es keine baltischen Staaten und keine baltischen Staatsflaggen. Die lettische und die estnische wurden in diesen Farben zwar schon seit Ende des 19. Jahrhunderts von Studentenvereinigungen getragen, aber die litauische entstand später. Es bleibt unerklärlich.
Wie so vieles im November.
(siehe auch das Nachwort zu Paul Bankovskis‘ Roman 18; ein anderes heute passendes Gedicht von Knuts Skujenieks)