Die Häsin kommt heute aus dem Stall

Im schönen Herrenhaus von Lūznava wird heute Nachmittag ein besonderes Buch präsentiert. Die feinen Zeichnungen des Schweizer Künstlers Vincent Flückiger und die kleinen Texte von Edeite Husare profilieren materielle und nichtmaterielle Realien aus dem Osten Lettlands. Durch diese doppelte und in jedem Fall ausgesprochen menschliche Linse sehen wir Lettgallen – wie es im Vorwort heißt: „Das Lettgallen von gestern und das von heute. Ein Lettgallen, das es nicht mehr gibt und höchstwahrscheinlich nicht mehr geben wird. Macht nichts, dann gibt es eben ein anderes.“

Die Texte wurden von dem in Lettland lebenden Amerikaner Jayde Will ins Englische und von der Lettland lesenden Deutschen Nicole Nau ins Deutsche übersetzt. Hier ist eine Kostprobe. Das lettgallische Original, gelesen von der Autorin, können Sie hier auf YouTube hören.

Lettgallische Milchbank, gezeichnet von Vincent Flückiger
Zeichnung von Vincent Flückiger

Die Milchbank (Pīna golds)

aus: Vincent Flückiger (Zeichnungen) und Edeite Husare (Texte). Trusīni vessim reitā pī puiša. We’ll take her to her friend tomorrow! Die Häsin kommt morgen zu ihrem Freund. Dreisprachige Ausgabe Lettgallisch, Englisch (übersetzt von Jayde Will) und Deutsch (übersetzt von Nicole Nau). Riga, Bīdreiba LgSC 2022.

„Schlüpp, schlüpp, schlüpp“ quietschen meine großen Stiefel über den verschneiten Weg. Die hat mir mein Bruder einmal aus Russland mitgebracht, damit sein Schwesterchen im Winter warme Füße behält. Heute sind sie genau richtig: Wir feiern den Namenstag meiner Freundin und stampfen in einer kleinen Gruppe über die weißen Wege der Umgebung. Wir erinnern uns an die Kartoffelfelder der Kolchose und diskutieren, wie wohl die Gutsherren hier in den Zeiten gelebt haben, von denen ein altes Gemäuer zeugt. Gleich sind wir an der Landstraße angelangt, und dort an der Ecke steht die Milchbank. Einst hat hier jemand morgens um vier die Kannen aufgestellt und auf das Molkereifahrzeug gewartet. In meiner Kindheit war die Konstruktion für meine Schwestern und mich ein wunderbares Auto à la Familie Feuerstein und ein Aussichtsturm, von dem aus man bestens über den Acker in die Höfe der Nachbarn gucken konnte.

Wir versinken in Gedanken, bis eine laute Frage die Stille unterbricht: „Erschreckt es euch nicht, dass wir höchstwahrscheinlich die letzte Generation sind, die weiß, was eine Milchbank ist?“

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