Über hundert und kein bisschen einsam

So ein schönes Buch. Schon von außen: erst der Schuber mit dem sandfarbenen Bild, das Meeressehnsucht weckt. Dann der wundervolle Leineneinband in kräftigeren Farben, bei dem das Land im Vordergrund steht und das Meer in die Ferne rückt. Die Designerinnen Nadja Zobel und Petra Koßmann haben dafür mindestens einen Preis verdient. In diesem Einband steckt ein Roman voller Geschichte und Geschichten, der etwa hundert Jahre umfasst: von den 1880er Jahren, in denen es Lettland als Staat noch nicht gab, aber die Nation sich bildete, die diesen Staat am 18.11.1918 gründete, bis zu den 1980ern, in denen die Möglichkeit der Wiederherstellung der lettischen Souveränität nach Jahrzehnten sowjetischer Stagnation sich zaghaft abzuzeichnen begann. Diese Zeit erlesen wir durch die Geschicke der Vējagali, einer verzweigten Familie, die mehrheitlich in einem kleinen Ort am Meer in der Nähe der Grenze zu Estland lebt. Was mir besonders an dem Buch gefällt, ist, dass lettische Geschichte hier nicht wie so oft als Leidensgeschichte erzählt wird (was ja auch nahe liegt, da die bösen Nachbarn die Letten selten in Frieden leben ließen), sondern als Geschichten von Menschen, die agieren und ihre Welt gestalten.

Also, am besten gehen Sie gleich heute zur Feier des lettischen Nationalfeiertages in Ihre Buchhandlung und kaufen dieses fantastische Buch! Falls Sie noch nicht ganz überzeugt sind, finden Sie unten eine Leseprobe.

Die Glücklichen, die gerade auf Rügen oder in der Nähe sind, können sich morgen, am 19. November um 19 Uhr, im Rahmen der Veranstaltung „Nachlese“ in Dahlmanns Bazar in Sassnitz aus dem Buch vorlesen lassen. Mehr dazu hier.

Zigmunds Skujiņš: Das Bett mit dem goldenen Bein.
Aus dem Lettischen von Nicole Nau. mare Verlag 2022. (Verlagsinfo)

KAPITEL 2

Ein Fronbuch aus der Schwedenzeit weist als ersten bekannten Vorfahren von Noass und Augusts einen Tenis vom »Wehje galle« am Burtnieker See auf, also Tenis vom Windende. Ob diese Bezeichnung sich auf ein Gehöft oder auf eine Ecke des Sees bezog, wo es besonders stürmisch war, ist heute schwer zu sagen. Der Schwarze Tod raffte die Familie dahin, nur der Nachzügler Ansis blieb am Leben. Drei Tage und drei Nächte saß Ansis in einer Eiche am Rand der Chaussee und wartete auf das Erscheinen einer Menschenseele. Am vierten Tag fuhr ein Weber aus Piebalga vorbei, den fast der Schlag traf, weil er Ansis für den Sohn der Pest hielt. Da aber Ansis’ strohblondes Haar ihn als einen Spross des Stamms der Vējagali auswies, nahm ihn der Mann schließlich doch in seinem Wagen mit.

In Piebalga wächst Ansis zu einem strammen Burschen heran und erntet weithin Ruhm für seine meisterlich gezimmerten Webstühle und feinen Drechslerarbeiten. Die Gegend von Piebalga sticht zu jener Zeit auch anderweitig hervor. Ihre Bewohner verkaufen ihre Leinenstoffe rund um die Welt und schauen sich überall ab, was neu und gut ist. Sie sind die Ersten, die in Livland Kartoffeln anbauen, die Ersten, die Schornsteine auf ihre Dächer setzen. Auch die im fernen Böhmen und Mähren entstandene Herrnhuter Brüdergemeine entdecken sie für sich, und diese Bewegung ist so recht nach ihrem Herzen. In der Kirche weiß der Pastor nur mehr den Zehnten einzufordern, und die Kanzel ist zu einem Ort der Schmähungen verkommen. Bei den Zusammenkünften der Brüdergemeine erquicken die Prediger die vom Frondienst für fremde Herren ermatteten Seelen und rufen zu einem Leben in Würde und Anstand auf. Ansis gefällt aber vor allem, dass hier Brüder von nah und fern zusammentreffen, dass kluge Gedanken ausgetauscht werden und der Gemeinschaftssinn gestärkt wird.

Wie es Brauch ist, bestimmt die Gemeine für Ansis eine Braut. Das Los fällt auf Rozālija, die Tochter des Gemeineältesten Andžs Reinbuks. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie hässlich gewesen wäre oder vom Alter her nicht zu Ansis gepasst hätte. Allerdings sind Zeugnisse erhalten geblieben,  wonach Andžs Reinbuks bei einer Zusammenkunft mit dem Erlöser gesprochen haben will und Erscheinungen hatte. Rozālija sehe sich als Braut Jesu. Sicher ist jedoch eins: Ansis flieht nach Cēsis. Ledig, denn schon bald nach seinem Eintreffen in der Stadt wird an drei Sonntagen das Aufgebot verkündet, und am Pfingstmontag werden Ansis Vējagals und Anna Lejasškērsta getraut. Dies ist das erste Mal, dass der Ortsname Vējagali als Nachname festgehalten wird.

Diese weit zurückliegenden Ereignisse wären nicht erwähnenswert, wenn sich darin nicht schon deutlich die Gene der Vējagali abgezeichnet hätten, die die Geschicke des Stamms fortan steuern sollten, die gewissermaßen die Vorbedingungen dafür schufen, dass Noass ständig auf der Suche nach neuen Ideen war, dass Augusts dem geteilten Haus ein gemeinsames Dach aufsetzte, dass Eduards Vējagals alias Edward Wagle auf der Bühne der Welt die Weichen der Macht veränderte und Viesturs Vējagalssich mit der Flinte in der Hand dem Traktoristen entgegenstellte, der sich erdreistet hatte, durch das Roggenfeld zu fahren.

Um zu jener Zeit vom Landsitz eines Gutsherrn wegzulaufen, musste man ein selbstbewusster, unternehmungslustiger, heißblütiger Sturkopf sein, und zweifellos ein bisschen verrückt. Ansis Vējagals gelang die Flucht, er entkam dem Fußblock und den in Salzwasser eingeweichten Ruten. Nach dem Nordischen Krieg lagen die Städte Livlands in Trümmern und waren wie leer gefegt. Für einen guten Handwerker war der Hohe Rat bereit, die Schuld des »Versteckens und Unterhaltens eines Leibeigenen« auf sein Gewissen zu laden. Denn wie Paulis Vējagals zweihundert Jahre später beim Bier im Krug von Zunte sagen sollte: »Die Wahrheit mag hundert Arme und Beine haben, doch auf zwei Bäume gleichzeitig klettern kann sie ebenso wenig wie ein Mensch.«

Die russische Kaiserin Elisabeth schenkte die Burg von Wenden ihrem Reichskanzler Graf Bestuschew-Rjumin. Der Graf betrachtet sich daraufhin als Eigentümer nicht nur der Burg, sondern auch der Stadt. Er lässt die Straßen von Wenden zu Äckern umpflügen und mit Hafer bestellen, wobei er droht, jeden zu erhängen, der die Aussaat anrührt. Die Städter aber ergeben sich nicht und beginnen einen Kampf. Vier Jahre lang hat Vējagals friedlich als Stellmacher und Zimmermann gearbeitet und der Stadt Steuern gezahlt. Nun zieht sich die Schlinge um seinen Hals zu. Die Männer des Grafen suchen einen »Hans Wehjegall« und erwischen Ansis beinahe auf der eingesäten Straße nahe dem Tor zu seinem Haus. Vējagals rennt in den Stall. Der Feldjäger lässt an der Tür bewaffnete Wachen zurück und reitet zur Polizei zum Pristaw. Der Pristaw kommt, die Wachen schlagen mit Schwertern ans Tor.

»Komm heraus, Teufelsviech, sag, warum du den Hafer des Grafen zertrampelst!«

Kein Mucks zu hören.

»Er ist da drinnen, ich habe selbst gesehen, wie er hineingelaufen ist«, sagt der Feldjäger.

In diesem Augenblick springt aus dem Stall mit Gebrüll ein Stier heraus. Er trägt Vējagals’ Rock und an den Hinterbeinen Vējagals’ Hosen.

Ob sich das nun wirklich so zugetragen hat, wissen wir nicht. Doch Skaidrīte Vējagala schwört mit erhobener Hand, dass die Quellen zuverlässig sind. Auf jeden Fall ist ein gewisser Hang zur Mystifizierung bisher in jeder Generation der Vējagali zu finden. Zum Beispiel hat Zete Vējagala, die Tochter von Paulis Vējagals, als sie in Moskau Filmwissenschaft studierte, einen Kubaner geheiratet und ist mit ihm weggegangen. Wohin? Na, nach Havanna natürlich, wohin sonst. Inzwischen ist Zete Vējagala zurück in Riga. Sie wohnt in Imanta-3 und fährt mit dem Motorrad auf die andere Seite der Stadt nach Šmerlis zur Arbeit im Kinostudio. Ihr Sohn Jānis Vējagals ist dunkel wie eine Backpflaume.

»War denn sein Vater auch schwarz?«

»Gar nicht.«

»Woher kommt das dann?«

»Schwer zu sagen, ist wohl nur vorübergehend.«

Ansis Vējagals verschwindet aus Cēsis und taucht später mit Frau und Kindern in Iļģuciems auf. Der reichste Mann von Riga, Johann Steinhauer oder Jānis Akmeņkalis, hat dort am Oberlauf der Düna eine Flößerei. Vējagals kann geschickt mit Axt und Meißel umgehen. Genau so einen Mann braucht Steinhauer für seine Bauten. Über Ansis Vējagals‘ weiteres Geschick gibt es wenig Aufzeichnungen. Bekannt ist nur, dass er im zweiundsiebzigsten Lebensjahr an einem windigen Sonntag im Oktober beim Übersetzen über die Düna ertrinkt. Er hinterlässt eine Witwe, zwei Söhne und zwei Töchter, vier Enkelsöhne und fünf Enkeltöchter sowie drei Urenkel.

Zweihundert Jahre später wird Irma Kukuvasa dem Museum der Marineschule von Ainaži ein altes Gesangbuch mit lederbezogenem Holzeinband schenken. Auf der vorderen Innenseite wird man deutlich die Unterschrift lesen können: »Ansis Wehjegall«. Etwas tiefer steht in derselben Handschrift in großen, klar gezeichneten Buchstaben: »Bauholz muss man im Januar und Februar schlagen. Laubbäume im alten Licht, an trockenen Tagen, Nadelbäume bei Neumond.«

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