Trügerisch schlicht und verstörend

sind die Gedichte von Arvis Viguls. Auf einem Übersetzerworkshop im September konnte ich den Autor treffen und zusammen mit Kolleginnen aus England, Frankreich und Tschechien probieren, wie seine Gedichte in unseren Sprachen klingen könnten. Hier sind drei zum Kennenlernen, aus dem 2021 bei Neputns erschienenen Band Blusu cirks (Flohzirkus), in dem Menschen mit Dingen interagieren, oder auch Dinge mit Dingen. Frühere Gedichte von Arvis Viguls sind auf Deutsch 2019 bei parasitenpresse erschienen (Die Handschrift einer Nadel, deutsche Übertragung von Astrid Nischkauer).

Der Niemand

Die klaren Konturen der Häuser
fest vertäut an verschwommenen Ufern.
Gärten, in denen das Erdreich
auch im Dunkeln noch laboriert.

Ein tropfender Hahn, ein Knacksen von oben.
Macht ein Haus auch Geräusche,
wenn niemand da ist,
der sie hört?

Du betrittst das Zimmer,
das als einziges in der Straße
erleuchtet ist –
deinen Traum.

Du blätterst im dicken Lexikon
und weißt nicht, wer du bist.
Die ganze Welt ist angefüllt
mit Deiner Abwesenheit.

Der Liebhaber des Zimmers

Er möchte die nackten
Zimmerwände umarmen.
Er sucht die Zimmerohren,
um zärtliche Worte hineinzuflüstern.

Er würde ihm all seine
geheimsten Geheimnisse erzählen
und dann mit der Zunge
die Zimmerohrmuschel liebkosen.

Mit Argwohn betrachtet er
die Tür, eifersüchtig.
Und erst das Fenster –
Papparazzi, Pornograph!

Er kniet nieder,
hebt eine Ecke des Teppichs an,
er küsst die Bodendielen –
nun hat er Staub auf den Lippen,

wird ruhig und will nur noch eins:
sich in die haarige Achselhöhle
seines warmen Zimmers
einkuscheln und einschlafen.

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft

Ein Tannenzapfen war auf den Balkon gefallen.
Ich trug ihn ins Zimmer
und legte ihn sacht auf dem Schreibtisch ab.
Er ist jetzt mein Freund.

Ich wollte ihm einen Namen geben,
doch eigentlich will ich ihn nicht vermenschlichen,
ich will, dass er sein
tannenzapfiges Wesen bewahrt.

Deshalb nenne ich ihn Tannenzapfen.
Ich würde ihn gern in der Hand halten
und vorsichtig streicheln,
habe aber Angst, ihn zu verletzen.

Tannenzapfen ist nicht so schön wie seine Brüder im Baum,
Tannenzapfen ist eine verdorrte, gefallene
und zerbrechliche Kreatur.
Ich habe einen ebenbürtigen Freund gefunden.

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