– Wie ist das überhaupt möglich, ein Werk in eine andere Sprache zu übertragen, zu übersetzen?
– Das ist wie Vorlesen.
Diese wunderbare Antwort gab der großartige Übersetzer und Dichter Uldis Bērziņš, als ihm letztes Jahr der lettische Jahrespreis der Literatur in der Sparte „Beste Übersetzung“ verliehen wurde. Die nächste Frage war noch etwas naiver, und die Antwort noch etwas verschmitzter und von diesem leisen erleuchteten Lächeln begleitet, das auf dem Beitragsfoto zu sehen ist.
– Wie viele Sprachen können Sie insgesamt?
– Eigentlich nicht so viele.
Nein, eigentlich konnte er gar nicht so viele Sprachen, und was heißt überhaupt Sprache und Können. Den Preis 2020 bekam Bērziņš für seine Übersetzung des altspanischen Epos Lied von meinem Cid(Cantar de mio Cid). Davor hatte er schon die Edda aus dem Altisländischen, das Igorlied aus dem Altrussischen, das Buch von Dede Korkut aus dem Altogusischen, den Koran und große Teile des Alten Testaments übersetzt, um nur einige zu nennen. Außerdem etwas neuere Werke aus türkischen und slavischen Sprachen, darunter die polnischen Nobelpreisträger Czesław Miłosz und Wisława Szymborska, Kindergedichte aus dem Schwedischen, und vieles andere.
Im März diesen Jahres ist Uldis Bērziņš im Alter von 76 Jahren gestorben. Wäre er hundert geworden, wer weiß, wie viele Sprachen er noch gelernt hätte, um Gedichte aus ihnen ins Lettische zu übertragen.
Der Jahrespreis für lettische Literatur, auf Lettisch Latvijas literatūras gada balva, kurz und heiter auch LALIGABA genannt, wird jedes Jahr im April verliehen. Gestern war es nun schon das zweite Mal, dass die Zeremonie unter besonderen Umständen produziert werden musste, und auch wenn sich die damit betrauten kreativen Menschen wieder viel Mühe gegeben haben, etwas Schönes und Besonderes zu produzieren, fand ich die Livesendung gestern Abend ziemlich melancholisch. Wenn man die Zeremonien von 2020 und 2021 vergleicht (sie sind beide noch auf der Homepage des lettischen Fernsehens zugänglich), sieht man ganz gut, was dieses Jahr auch jenen Teilen der Kultur, die nicht auf direkten Publikumskontakt angewiesen sind, angetan hat. Vor einem Jahr regte die neue Situation zu vielen spontanen kreativen Lösungen an, und die Stimmung war trotzig fröhlich. In diesem Jahr sind dieselben Lösungen schon Routine, dazu gibt es professionellere Montagen.
Preisverleihung im April 2020: Ausschnitt mit dem oben zitierten Dialog
Den Preis für die beste Übersetzung bekam in diesem Jahr Jānis Elsbergs für seine Übertragung von Gedichten von Charles Bukowski. Den für das beste Prosawerk bekam Jānis Joņevs für seine Erzählungen, die unter dem Titel Tīģeris (Tiger) erschienen sind und die ich noch nicht gelesen habe. Den Preis nicht bekommen hat das Buch, das ich gerade lese: Rakstītāja von Inga Gaile, ein Roman über die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Ivande Kaija (1876-1942). Als bestes Debut wurde wie erwartet Kalendārs mani sauc (Der Ruf des Kalenders) von Andris Kalnozols ausgezeichnet – das Buch habe ich gerade gelesen und mag es auch sehr. Ich habe auch den Anfang übersetzt (im Auftrag von latvianliterature.lv), leider, bevor ich das ganze Buch gelesen habe. Wenn man nur den Anfang oder einen anderen Ausschnitt liest, fragt man sich, wie der Autor diesen Stil einen ganzen Roman lang durchhalten kann, ohne dass es langweilig wird. Er kann! Gerade wenn man denkt, nun habe ich den Helden verstanden, was soll er mir noch sagen, geschieht etwas Unerwartetes, und dann wieder und nochmal. Und wenn man sich an das Unerwartete gewöhnt hat, ist man auch durch und kann sich selber überlegen, wie es weitergeht. Autor und Buch sind Anfang Juni zum Europäischen Festival des Debutromans nach Kiel eingeladen. Wenn das mal stattfindet (letztes Jahr wurde es abgesagt – da hatte ich auch einen Ausschnitt aus dem lettischen Beitrag übersetzt). Vielleicht fällt den Veranstaltern noch etwas Kreatives dazu ein, sie hatten ja ein Jahr Zeit zum Üben. Dann wird dort meine Übersetzung vorgelesen 😊 Und dieses Buch ist überhaupt nicht melancholisch, sondern wunderbar lebensbejahend und zukunftsschauend. Das sollten wir auch.