(Bild: die Cēsu iela in Limbaži – zu einer etwas anderen Zeit. Gefunden auf letonika.lv)
Matthias Boosch: Black Friday und andere Lettland-Geschichten.
BaltArt-Verlag, 2016
Ich ging die Straße entlang. Rotbraune Blätter an den Bäumen, sowjetisch anmutende Autos, aufgesprungener Asphalt.
«Cēsu iela», stand auf einem Straßenschild. Das also war der Ort, in dem ich das nächste Jahr verbringen wollte.
Ein Freund hatte mich auf die Idee gebracht, als er nach einer Lettlandreise überzeugt war, man könne dort besser als anderswo «dem Leben zuhören».
Ich ging an einem alten Holzhaus vorbei, wie man es von Schweden her kennt. Folgte der Cēsu iela.
Limbaži. Eine Kleinstadt im Norden Lettlands. Ich freute mich auf das nächste Jahr.
Abends saß ich auf dem Balkon meiner Wohnung im fünften Stock. Sah herunter auf die Wiese vor dem Haus, die Straße und die Milchfabrik dahinter. Trank zum ersten Mal in meinem Leben ein lettisches Bier. So anders als deutsches schmeckte es nicht, aber hier in Limbaži, an meinem ersten Tag in Lettland, war es etwas Besonderes.
Ich beobachtete die Leute, wie sie die Straße an der Wiese entlanggingen, im Supermarkt gegenüber verschwanden, nach einiger Zeit wieder herauskamen. Der Cēsu iela mit nun vollen Einkaufstüten folgten.
«Du wirst dich zu Tode langweilen», hatte ein anderer Freund in Deutschland mir prophezeit. «Ich habe den Wikipedia-Artikel über Limbaži gelesen, es gibt dort absolut nichts Interessantes.»
Er hatte mich nicht überzeugen können, aber Zweifel waren geblieben. Vielleicht würde tatsächlich nichts weiter passieren, als dass ich auf dem Balkon saß und Leute beim Einkaufen beobachtete. Ich nahm einen Schluck Bier.
Es war windig geworden. Ich stand auf, um reinzugehen, nahm mein Bier – da hörte ich Geräusche in der Wohnung. Blieb stehen. Eine Sekunde später öffnete sich die Tür des Wohnzimmers, und ein älteres Paar stand vor mir. Starrte meinen Rucksack auf dem Boden, meinen Schlafsack und die Isomatte an, dann mich, der ich immer noch auf dem Balkon stand.
Die beiden waren offensichtlich genauso überrascht wie ich. Guckten mich an, als sei ich ein Geist.
Stille.
Dann redeten sie, beide gleichzeitig, wohl auf Lettisch, so genau konnte ich das damals nicht vom Russischen unterscheiden. Als sie merkten, dass ich sie nicht verstand, erklärten sie mir gestenreich und mit einigen Brocken Englisch, dass das ihre Wohnung sei und sie jetzt die Polizei rufen würden.
Ich dagegen machte ihnen klar, dass dies meine Wohnung sei, und drohte ihnen ebenfalls mit der «policija».
Ich zeigte den beiden einen Zettel, auf dem Name und Handynummer des Menschen standen, der mir die Wohnung vermietet und die Schlüssel gegeben und dem ich eine Monatsmiete im Voraus bezahlt hatte.
Der Mann ignorierte den Zettel, redete weiter auf mich ein, aber die Frau sah, was darauf stand, riss ihn mir aus der Hand und zeigte ihn dem Mann. Aufgeregt rief sie: «Krišjānis!»
Der Mann hielt inne. Nun diskutierten die beiden miteinander. Die Frau zückte ihr Handy und versuchte, besagten Krišjānis anzurufen, er nahm nicht ab.
Der Mann erklärte mir, Krišjānis sei ein Verbrecher. Ich hielt dagegen, die Verbrecher stünden vielleicht hier vor mir.
Der Mann zeigte mir seinen Ausweis, Godmanis hieß er. Ich folgte ihm fünf Stockwerke hinunter bis zum Briefkasten. Immer noch hielt er seinen Ausweis in der Hand, ließ mich vergleichen. Derselbe Name.
Godmanis stieg eilig wieder die Stufen hinauf. Ich folgte ihm. Sah, oben angekommen, dass die Frau bereits Rucksack, Schlafsack und Isomatte vor die Tür gestellt hatte. Der Mann verschwand in der Wohnung, und ich stand vor der geschlossenen Tür.
Ich fluchte. Trank von meinem Bier, das ich immer noch in der Hand hielt. Natürlich konnte es sein, dass die beiden früher einmal hier gewohnt hatten und das Briefkastenschild noch nicht ausgetauscht worden war. Wahrscheinlicher war wohl, dass sie Krišjānis leichtsinnig den Schlüssel ihrer Wohnung anvertraut und dieser mich, den naiven Ausländer, übers Ohr gehauen hatte.
Ich nahm meine Sachen, stieg die Treppe hinab, trat vor die Tür. Es war bereits dunkel.
Was nun? Ich überquerte die Wiese. Folgte der Cēsu iela Richtung Stadtmitte. Gab es eine Jugendherberge in Limbaži? Oder ein Hotel?
So fängt es an, das Jahr in der lettischen Provinz, in dem ein deutscher „aus der Zeit gefallener Späthippie“ (Klappentext) dem Leben zuhört, den Menschen auf der Straße zuschaut und hier und da ein alkoholisches Getränk zu sich nimmt. Es passiert vielleicht nicht viel, aber so ist das Leben, und irgendwie ist es doch spannend zu sehen, wie der Held durch die lettische Boheme gleitet, sich hier ein bisschen integriert und da ein bisschen Abstand hält. Einmal ein ganz anderer Blick auf Lettland!
Wahrscheinlich wirken die Geschichten noch besser, wenn man sie vom Autor vorgelesen bekommt. Wer in der Schweiz wohnt, hat diesen Mai dazu Gelegenheit: vom 17. bis 26. Mai sind die Lettlandgeschichten auf Tour zwischen Bern und Basel. Termine gibt es hier und auf der Homepage des Autors.