Ein Ausschnitt aus Andra Manfeldes Roman „Virsnieku sievas“ (Offiziersfrauen). Rīga: Dienas Grāmata, 2017
Aus dem Lettischen von Nicole Nau
Das Meer wie eine beschlagene Scheibe. Du schaust in die Ferne und siehst nichts. Pustest, wischst die Brillengläser mit einem Zipfel deiner Hosentasche ab und arbeitest weiter. Fragen sind überflüssig. Was bringen Fragen über das, was man nicht ändern kann? Auch im Schlaf bist du auf Posten, wenn du deine Frau an die Hand nimmst, bist du auf Posten, oder du schläfst. Du gehst ihr das Meer zeigen. An jenem Tag gab es überhaupt keine Wellen. Auch keine Schiffe. Ein paar Grenzschützer verschmolzen ihre Silhouetten in der Ferne mit den Weiden. Betonsterne lagen hilflos herum, eingezwängt auf den Schrägen der Mole, sie erinnerten an angespülte, schwarz gewordene Schrottteile. Hinter die Absperrung dürfen Zivilisten nicht.
„Wie schön.“ Die Frau blickte lange aufs Meer oder in Richtung Leere. Als Kind der Steppe bemerkte sie nicht, dass das Meer an jenem Tag langweilig war wie eine Zeitung, wie das Leben. Ein blanker Kessel aus bläulichem Gusseisen, ohne eine einzige Wellenbeule. Die Sonne hatte die Schatten in der Niederung verschluckt und streichelte nun immer heißer ihre Gesichter. Die Weiden standen in Ruhestellung. Seine Tochter fragte, ob die Sowjetunion genau dort aufhörte, wo das Meer anfing. Sie zog mit ihrem Fingerchen eine Grenzlinie in den Sand, aber das Salzwasser schwappte seine Unbeweglichkeit und Entschlossenheit darüber, und innerhalb einer Minute war die kleine Grenzrinne zu und die weißen Söckchen und Sandalen der Tochter waren nass. Seine Frau fing an zu schimpfen, nasse Sandalen würden ihre Form verlieren, die Füße würden ohnehin zu schnell wachsen, da käme man nicht hinterher, Lera solle sofort die Schuhe ausziehen und vom Meer weggehen. Er fühlte sich alt und müde. Jetzt bist du ganz oben, Oberst.
Die Arbeit ist ein Posten, die Familie ist ein Posten, der Körper ist ein Posten. Du stehst Wache wie das ewige Feuer und niemand, verdammt, niemand kommt dich ablösen. Lange noch wirst du hier der Hauptkerl mit den Schulterstücken sein, zumindest in dieser Keimzelle der Gesellschaft, zu lange, um darüber nicht zu wimmern, wenn man in der Einsamkeit auf die Knie fällt und den Flachmann an die Brust drückt. Wacht darüber, dass das Feuer niemals verlöscht! Ruhm und Ehre den Helden des Vaterlands! Ruhm denen, die niemals weichen und die siegen werden! Ruhm denen, die das Teuerste hingaben!
„Papa, hört hier die Heimat auf?“
Ja, so könnte man sagen.
Schau, hier verschwindet der Rand unseres Staates im Meer. Fern im Zentrum von Liepāja ist der Sand wie gelber Puderzucker, die Dünen sind damit bestreut wie Pfannkuchen, durch Lachen und Niesen wird der Sand in alle Richtungen verteilt. Hier in der Militärstadt ist der Sand grau und grob gemahlen, er erinnert an den Teig, den man in Kastenformen gießt um Brot zu backen. Sieh, die Wellen verzieren die Grenzen unserer Heimat mit glattgewaschenen Steinen, Glasscherben, roten Ziegelsplittern. Schmücken sie mit Bernstein, mit Muscheln, mit dem weichen Seegras, das in der Tiefe des Meeres wallt wie flaumiges grünes Haar, doch wenn es an Land gespült wird, anfängt zu stinken.
„Mama, wann gehen wir ans Meer?“
„Wenn Papa heimkommt.“
Papa kommt zusammen mit der Dunkelheit heim. Die Dunkelheit öffnet die Tür und lässt Papa ein.
„Bist du noch nicht im Bett? Jetzt aber…“
„Papa, Papa!“