Wo ist die Morgenröte?

AusmaKinder

Laima Pakalniņas Film Ausma (2015)

Lettisch-estnisch-polnische Koproduktion von Laila Pakalniņa, Kaspar Kallas und Małgorzata Staroń.
Kamera: Wojciech Staroń
Musik: Vestards Šimkus

Plötzlich und unerwartet lief dieser Film, den ich schon längst hatte sehen wollen, an einem Nachmittag vor Ostern in einem Kino meiner Stadt. Ich bin froh, dass ich ihn gesehen habe, auch wenn ich das Kino mit gemischten Gefühlen verließ.

Guter Trailer auf Vimeo:

Am Anfang läuft einer vor der Kamera her durch einen Bach und ruft dabei: Wo ist die Morgenröte?  Aber es geht nicht um Licht am Himmel, und der englische Titel „Dawn“ ist eher irreführend. Es geht um Grausamkeiten verschiedener Art, individuelle, historische, politische, schicksalhafte. Ein Mann hat seine Frau tot geprügelt (wir sehen ihren Leichnam auf einem Pferdewagen). Ein Sohn hat seinen Vater wegen antikommunistischer Umtriebe oder so angezeigt. Ein Vater ermordet seinen Sohn. Eine Handvoll Männer wird gefesselt abgeführt, von einer harkenschwingenden Menge bespuckt. Die Männer befreien sich und ermorden nicht nur ihre Bewacher. Das Volk stürmt eine Kirche, reißt Bilder, Kreuze, Madonnen herunter und stapelt sie zu einem Scheiterhaufen. Menschen, die kaum noch wie solche aussehen und sich schon gar nicht wie solche benehmen, trinken milchigen Selbstgebrannten aus großen Gläsern. Weißbehemdete, rotbehalstuchte Kinder schwärmen über Wiesen. Beeindruckende Bilder, großartige Musik (wie ich las, die erste Filmmusik, die der lettische Pianist Vestards Šimkus komponiert hat; der Soundtrack ist hier).

Aber worum geht es wirklich? Das habe ich erst verstanden, als ich den rekonstruierten Film von Sergej Eisenstein „Die Beschinwiese“ (1935-1937) im Internet fand. „Ausma“ ist ein Dialog mit diesem Film, vielleicht mit dem sowjetischen Kino der Dreißiger überhaupt. Dazu passt dann auch, dass mir Pakalniņas Film als eine Aneinanderreihung von Bildern erschien, denn nur so ist Eisensteins Filmidee heute erhalten. Eisenstein wollte die Geschichte eines Jungen erzählen, der in den stalinistischen Dreißigern und danach zum Mythos wurde (der Mythos hat den Namen „Pawel Morosow“, der Junge im Film heißt allerdings anders). Pakalniņa zeigt, wie absurd diese Idee aus heutiger Sicht ist. Zeigt, wie man dieselben Szenen filmen und anders interpretieren kann. Das ist schon spannend und aufwühlend. Ohne dieses Hintergrundwissen fehlt dem Film allerdings etwas (die Story?).

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