Inga Žolude: Der Weg

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Inga Žolude: Stāsti (Erzählungen)
Rīga: Dienas Grāmata, 2015

Ausschnitt aus der Erzählung „Der Weg“, aus dem Lettischen von Andreas Jäkel

Astija fotografierte wieder. Sie knipste lange, aber Carver konnte nicht erkennen, was. Er stellte sich neben sie und schaute sich alles quasi aus ihrer Perspektive an. Dort war nichts. Nur der Weg. Ein schmaler gepflasterter Weg, der einen steilen Buckel hinauf lief, als ob er auf der anderen Seite hinabstürzte.

„Geh da hoch und stell dich mit dem Rücken zu mir“, sagte Astija und schaute dabei durch die Linse ihrer Kamera. „Ich hab ein neues Projekt: Ich fotografiere Leute von hinten, wenn sie nach vorne schauen. Das hier ist ein guter Platz. Der Berg hier.“

Carver ging den Weg entlang und stellte sich an den höchsten Punkt. Astija gab ihm Anweisungen, wie er zu stehen hatte. Er hörte das Klicken der Kamera.

„Siehst du, wohin der Weg führt?“ fragte Astija, während sie die Szene festhielt.
„Nein.“
„Wie? Endet er dort?“
„Nein.“

Carver hörte, wie Astija das Pflaster entlang zu ihm herauf lief. Sie stellte sich neben ihn. Hinter dem hohen Buckel machte der Weg eine Biegung von fast neunzig Grad, schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und war darauf nicht mehr zu sehen.

„Der Weg führt Gott weiß wohin“, sagte Astija. „Weiter gehen wir nicht.“
Astija schob den leeren Kinderwagen, sie trafen Hermann und Yvonne an einem kleinen Aussichtspunkt oberhalb der Stadt, den sie Carver hatten zeigen wollen.

„Ich wusste nicht, dass es hier so einen Platz gibt“, sagte Carver.
„Wir haben ihn auch vor Kurzem erst entdeckt! Und wollten ihn dir zeigen.“ Astija freute sich darüber, dass es ihnen gelungen war, Carver zu überraschen.
In Wirklichkeit waren sie hierhergekommen, damit Astija fotografieren konnte, wie Leute auf die Stadt hinabblickten oder sich die untergehende Sonne ansahen.

„Ich mag nicht, dass du mich von hinten fotografierst“, sagte Carver, während er auf die Stadt hinuntersah. Seine Gedanken hingen an dem Weg, der Gott weiß wohin führte. Was mochte dort sein? Wer ging auf diesem Weg und wohin? In der letzten Zeit hatte er sich das Leben oft wie einen Weg vorgestellt.

„Niemand wird dich erkennen, mach dir keine Sorgen! Man wird nur deinen Rücken sehen. Millionen von Menschen haben so einen Rücken.“ Und Astija knipste weiter.
„Wenn ich mit dem Rücken zum Betrachter stehe … sehen die Leute, was hinter meinem Rücken liegt. Aber das ist schon vergangen, das habe ich hinter mir gelassen. Das ist wie der Schweif eines Kometen. Aber ich bin ein Mensch von vorne, der die Erfahrungen des ganzen Weges bis hierher mit sich trägt. Ich bin schon ein anderer. Verstehst du?“

„Wahnsinnig kompliziert!“ meinte Astija. „Nein, ich denke, dass jemand, der sich die Fotos ansieht, quasi dir im Rücken steht, und er sieht auch eigentlich nicht diese Aussicht. Alles, was er sieht, ist ein Rücken. Und aufgrund des Rückens allein wird er nicht sagen können, was es ist, was du siehst und was du fühlst. Weil alle Rücken gleich sind. Sie haben keine Gesichtszüge. Wenn ich von vorne fotografieren würde, gäbe es Gesichtszüge und Emotionen ‒ es gäbe ein Narrativ. Aber ich möchte keine Geschichte. Ich möchte einfach einen Rücken.“

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Dies ist bereits der zweite Band mit Erzählungen von Inga Žolude. Mit dem ersten (der den spannenderen Titel hat: „Trost für den Adamsbaum“) gewann sie 2011 den Literaturpreis der Europäischen Union. Daneben (wenn man das so sagen kann) hat sie drei Romane veröffentlicht und Geschichten für Kinder geschrieben. Es wird also Zeit, dass mehr von ihr auf Deutsch erscheint! Hier kann man sie in einem Minivideo hören und sehen.

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