Dace Rukšāne
SLOW FOOD
Erzählung, veröffentlicht auf Satori.lv März 2011
Aus dem Lettischen von Nicole Nau

Jetzt haben wir schon zum dritten Mal den falschen Weg gewählt. Wir fahren in Bögen, das Auto rutscht an den matschigen Rändern aus, beinahe säuft uns der Motor ab. Der Scheibenwischer bleibt auf halbem Wege stecken. Regenschleier vermischen sich mit Nebel und im Scheinwerferlicht kann man mit Mühe ein paar Meter voraus sehen. Es ist schon nach zehn und wir können das verdammte Hotel einfach nicht finden, in dem wir die kommende Woche verbringen wollen. Wir haben uns bewusst einen Ort in der Mitte von Nirgendwo ausgesucht, noch dazu in der scheußlichsten Jahreszeit und an Werktagen, um der Menschheit zu entfliehen. Völlig. Wir sind müde vom ewigen Marathon, von den obligaten Gläschen Wein, den nervösen Typen, dem Handyklingeln bis zwei Uhr morgens und dass wir einander beim Aufwachen nichts weiter erzählen können, als dass wir schon wieder von der Arbeit geträumt haben.
Der Mensch vom Hotel hatte uns erklärt, dass genau dieser Ort unseren Wünschen am allerbesten entgegen komme. Hierhin würde es keinen zufällig Vorbeifahrenden verschlagen, andere Gäste kämen nur an Wochenenden, das gesamte Personal und ein wundervolles Slow Food-Restaurant stünde uns zur Verfügung. Klang gut. Alles, was langsam und unaufgeregt ist, ist gut. Es gäbe auch einen Friedhof, einen alten und sehr stimmungsvollen. Passt genau – Friedhöfe sind immer gut, wenn man Einsamkeit sucht. Die Telefone ließen wir zu Hause, die Computer auch. Man hatte uns gewarnt, dass im Dorf gerade alle Straßen und Kabel erneuert würden, die Gemeinde tauschte Masten aus und tat noch allerlei andere großartige Dinge, um sich die Krisenzeit zu vertreiben, daher wäre der Internetzugang häufig unterbrochen und meistens nicht vorhanden. Das war sogar gut so. Wir haben nur Bücher mitgenommen. Ich zehn Kilo und mein Mann sieben.
Wir schlingern weiter den aufgeweichten Feldweg entlang und schweigen.
– „Hör mal, ich glaube da war gerade eine Abzweigung nach links“, stoße ich hervor.
– „Hab ich nicht gesehen.“
– „Vielleicht fahren wir ein Stück rückwärts und sehen nach?“
Mein Mann antwortet nicht und fährt weiter.
– „Was meinst du?“. Ich lasse nicht nach.
– „Wir fahren noch so zehn Kilometer weiter. Wenn dann nichts kommt, kehren wir um und suchen diese deine Abzweigung.“
Ich bin ein vernünftig erzogenes Mädchen und weiß genau: wenn ein Mann einen Weg sucht, ist die einzige Lösung, ihn machen zu lassen.
Nach knapp zwei Stunden sind wir am Ziel. Der unwegsame Sumpf wird plötzlich zu einem kiesbestreuten Hof mit einer riesigen Eiche in der Mitte, das in Nebelschleier gehüllte Herrenhaus ist hübsch angestrahlt und die Tür wird uns von einem lächelnden Jungen geöffnet, der sich höflich anbietet, unseren Toyota zum nahen Parkplatz zu fahren, während wir unser Zimmer beziehen. Abendessen in einer Stunde. Wir haben uns fest vorgenommen, nur Fisch zu essen. Damit diese Woche nicht nur Erholung für den Kopf wird, sondern auch den Stoffwechsel erfreut.
Ein aberwitziges Hotel. In den Kristallleuchtern spenden gezwirbelte Energiesparlampen gedämpftes Licht, an den Wänden kleben diese typisch lettischen Keramikväschen, die blank polierte Treppe aus rostfreiem Stahl versucht auf Krampf, mit dem gedrechselten Holzgeländer zu harmonieren. Es gibt auch einen roten Teppich. Teppiche liegen überall. Ein Haus der Stille. Sogar unsere scheppernden Rollkoffer hinterlassen keine Lärmabdrücke.
Wir laden die Bücher aus, ziehen Hausschuhe an und gehen zum Essen. Die Zubereitung dauert lange, die Portionen sind für unseren chaotischen Großstädter-Appetit lächerlich klein und werden nach Haute Cuisine-Art großzügig auf weiße Teller gestrichen. Ein Tröpfchen Soße in Grün, ein Häkchen in Orange, ein Erbsenspross und ein Häppchen weißer Fisch. Wir trauen uns nicht, schnell zu essen, denn der mild lächelnde grauhaarige Kellner taucht alle Augenblick auf, mal von einer, mal von der anderen Seite, erkundigt sich, wie es schmeckt und was er dem Chef sagen solle. Vielleicht etwas frisch gemahlener Pfeffer? Wir knabbern den Fisch stückchenweise, lächeln dümmlich zurück, preisen das phantastische Mahl, einfach himmlisch, und halten uns umso mehr an den Wein, um nicht schamlos noch fünf Portionen zusätzlich zu ordern. Zum guten Schluss sind wir ziemlich voll. Ich fühle mich auf aristokratische Weise von meiner angeborenen bäuerlichen Steifheit befreit, bedenke den Kellner mit einem strahlenden Lächeln und frage:
– „Und wo haben Sie früher gearbeitet?“
Er tut verlegen und zählt eine Reihe Bars und Gaststätten auf, von denen ich zum ersten Mal höre. Ich versuche, mein Lächeln strahlend und allwissend zu erhalten.
– „Sie sehen, ich habe eine ziemlich breite Erfahrung“, murmelt er und verschwindet hinter der Küchentür, um saubere Gläser zu holen.
– „Das sieht man“, rufe ich ihm laut hinterher, voller Überzeugung, dass ich das als Komplement gemeint habe.
– „Das waren alles geschlossene Anstalten der Sowjetzeit“, haucht mein Mann mir mit leicht berauschtem Atem ins Ohr.
Wir verdrehen gleichzeitig die Augen und spucken uns beinah gegenseitig Wein ins Gesicht vor unterdrücktem Lachen. Passt schon. Nach einem Miniaturstückchen Kuchen zum Dessert fühlen wir uns geradezu pappsatt. Leicht schwankend gehen wir in unser Zimmer, rollen uns ins Bett und lassen uns vom Karussell der Zimmerdecke in den mit etwas Übelkeit vermischten Schlaf der Trunkenheit ziehen. Zu viel Wein.
Zum Frühstück verspäten wir uns, wir werden die Mattheit nicht los. Aber in der Küche zeigt man Verständnis und serviert uns ohne Eile ein langsames Frühstück. Ein Stückchen geräucherte Forelle, zwei Biomuscheln und ein Glas eiskalten Sekt. Der dumpfe Schmerz im Hinterkopf legt sich und ich schlage meinem Mann vor, einen kleinen Spaziergang zu machen, bevor wir in unsere Bücherkilos versinken.
Weit kommen wir allerdings nicht. In der Nacht ist es wärmer geworden und Nebel hat die Umgebung so weit eingepudert, dass nur der untere Stamm der Eiche zu sehen ist. Mit etwas Anstrengung kann man in der Tiefe ganz hinten die Silhouette unseres Autos erahnen. Sonst nichts. Als ob die Welt außerhalb des Herrenhauses nicht existieren würde, noch nicht einprogrammiert wäre. Es gibt nur uns, das Haus und ein paar Menschen in der Stille der plüschigen Teppiche. Theoretisch müssten hier mehrere Teiche und kleine Seen sein, im Internet wurden auch Pferde versprochen, ein Gehölz mit großen alten Bäumen, Energie spendende Steine und eine Burgruine. Aber es gibt nur das, was wir sehen – ein grauweißes Nichts.
Wir versuchen zu lesen. Mit Mühe wähle ich drei Bücher aus, blättere sie durch, kann mich nicht entscheiden, welchem ich zuerst erlauben soll, mir die Zeit zu vertrödeln. Träge machen wir ein bisschen Liebe, schlafen ein, wachen auf, lächeln, putzen uns die Zähne und gehen zum Abendessen.
Es ist wieder sehr slow, aber daran haben wir uns nun schon gewöhnt. Diesmal ist das Soßenpünktchen orange und das Häkchen grün. Wir trinken, aber nicht mehr so gierig wie gestern. Wir versuchen zu verstehen, wie die Nuancen des Weins mit dem grauen Klecks Wildlachs in der Mitte unseres Tellers harmoniert. Sie scheinen gut zu harmonieren, auch wenn wir nicht völlig überzeugt sind, dass wir verstehen, worin sich diese Harmonie ausdrückt.
– Ich wünsche schöne Träume, sagt der Kellner halb flüsternd, als er unauffällig das Geschirr abräumt. Vielleicht möchten Sie noch ein Glas im Kaminzimmer zu sich nehmen?
Wir ziehen um an den Kamin. Diesmal schwankt die Decke vor und zurück, vor und zurück. Vielleicht, weil wir in Schaukelstühlen sitzen. Nachdem wir in der Kaminwärme halb eingeschlafen und durchgebacken sind, schlurfen wir ins Bett. Im Buch habe ich etwa sieben Seiten geschafft, dafür versuche ich noch vor dem Einschlafen etwas in mein Notizheft zu schreiben. Das habe ich immer bei mir, für den Fall einer unerwarteten genialen Idee. Es fliegt schon jahrelang in meiner Tasche herum, geht bereits auseinander und ist völlig leer. Heute weihe ich es mit einem Text ein.
Der folgende Tag ist noch nebliger und der Nebel noch dichter. Wir schlafen, als hätten wir das unser Leben lang nicht getan, als hätten wir die vergangenen Monate und Jahre mit Kleinkindergeschrei in schlaflosen Alptraumnächten zugebracht. Zum Frühstück gehen wir nicht, mittags bitten wir um ein Glas Tee, das man uns zusammen mit fragilen Keksen aus roten Nüssen ins Zimmer bringt, dazu, oh ja, Sekt. Der muntert uns so weit auf, dass wir es schaffen, unter die Dusche zu gehen, wo wir uns still und langsam gut tun und über das Hotelpersonal reden.
Bisher haben wir drei Personen gesehen: den Kellner, die Putzfrau und den Jungen, der uns aufgemacht, das Auto wegfahren und den Kamin angezündet hat. Hinter der Küchentür müsste eigentlich ein Koch sein. Wir beschließen, dass sie hier im Haus auch wohnen, denn nach der Karte zu urteilen gibt es im Umkreis von dreißig Kilometern keine angemessene Behausung.
– „Aber wo kriegen sie die Lebensmittel her?“, frage ich meinen Mann gähnend.
– „Die werden bestimmt von Bauern aus der Umgebung gebracht, während wir schlafen. Slow Food muss ja frisch sein.“
Es will mir nicht in den Kopf, wie man an einem ganzen freien Tag bloß drei Seiten lesen kann. Aber ich habe tatsächlich keine Kraft zu mehr, denn schon ist wieder Zeit fürs Abendessen: Sößchen, eine Mini-Kelle Hechtsuppe, ein kleiner Gruß aus der Küche und ein von irgendwo aufgetauchter zauberhafter Burgunder. Gestern war der ganz sicher nicht im Weinregal, denn das hatte ich inspiziert. Wir versprechen uns, morgen keinen Tropfen zu trinken und versinken genüsslich in unseren Gläsern.
Bevor wir uns in die Waagerechte begeben, gehen wir für eine Zigarette auf den Balkon. Ein leichter Wind ist aufgekommen und hat den Nebel etwas zerstreut. Irgendwo hinter den Büschen schimmert ein kleines Licht. Es wohnt also doch jemand hier. Wir beschließen, morgen endlich richtig spazieren zu gehen.
– „Lass uns diese Häuser und den kleinen Friedhof anschauen“, sage ich nach einem Frühstück aus Abstraktion vom Thunfisch und bitterem Feldkräutertee.
Wir irren lange durch das alte Gehölz, vom Friedhof keine Spur. Nachdem wir eine kleine Anhöhe erklommen haben, können wir jedoch Häuser sehen und gehen auf sie zu. Wir finden ein zweistöckiges Gebäude aus den frühen Sechzigern, das inmitten dieser leeren Landschaft völlig unpassend erscheint. Noch seltsamer wird es durch eine grünbraun gefleckte Stoffplane, die die Wände überdeckt und nur Schlitze für Tür, Fenster und Dach hat. Die Plane ist stellenweise gerissen und gibt den Blick auf schmutzig weiße Ziegel frei. Um das Haus herum sehen wir noch mehrere große Anhäufungen, die ebenfalls mit Tarnstoffen bedeckt sind. Kein Mensch in der Nähe. Aus dem Hausinneren klingt gedämpftes Hundegebell. Ich nähere mich einem der Haufen und hebe die Plane an. Darunter befindet sich allerlei Müll, kreuz und quer durcheinandergeworfen – verrostete Pfannen, Armaturenteile, aufgeweichte Holzspäne, Harken, Melkbecher, Reste von Eisensieben, ein zerrissener Anorak. Abfall, gewöhnlicher landwirtschaftlicher Abfall.
Zwei Menschen in gefleckter Armeekleidung nähern sich dem Haus über den Weg. sie gehen langsam, schlurfen müde in schweren Gummistiefeln durch die nassen Schlaglöcher, vollgesogen von Nässe und Müdigkeit. Sie scheinen älter zu sein, doch durch die tief über die Stirn gezogenen Kapuzen kann man ihre Gesichter nicht ordentlich sehen. Es ist nicht einmal zu erkennen, ob es Männer oder Frauen sind. Wir gehen ihnen entgegen und fangen ein Gespräch an. Was sind das für Häuser? Wer wohnt dort? Wo sind die Besitzer? Die beiden bleiben einen Augenblick stehen, sehen uns an, sagen kein Wort und setzen dann, als sei nichts gewesen, ihren Weg fort, bis sie im Bauch des Hauses verschwunden sind.
Wir klopfen versuchsweise an die Tür, ziehen an der Klinke, aber die Tür bleibt zu. Hunde beginnen zu toben. Wir sind hier nicht erwünscht, wir gehen.
Zurück im Hotel fragen wir den Kellner, der zur Zeit unser einziger Kontakt zur Außenwelt ist. Er beginnt eine lange Geschichte über den Besitzer des Herrenhauses, der hier den perfekten Urlaubsort für gehobene Ansprüche schaffen wollte. Mit einer Landschaft wie gemalt, deren Anblick nicht von unästhetischen Bruchbuden und abgerissenen armen Leuten verschandelt wird. Doch nach der Renovierung des Herrenhauses hatte er nicht mehr das Geld, die Einheimischen näher ans Dorf umzusiedeln und das anstößige Gebäude mit dem Bulldozer platt zu machen. Ein Rechtsstreit hätte sich Jahre hinziehen können, außerdem wäre es unvernünftig, sich auf dem Land mit den Nachbarn zu verfeinden. Da hätte dann der Chef einen Kompromiss gefunden. Er gab ihnen Arbeit – Kaninchen, Hühner und Gänse für das Restaurant züchten, das Laub auf dem nirgends zu findenden Friedhof zusammenkehren. Als Gegenleistung eine geringe, aber angemessene Bezahlung, unter einer Bedingung: das hässliche Haus sei mit Tarnstoffen zu verkleiden, damit man es von den Hotelfenstern aus schlechter erkennen würde. Auch die Leute selbst hätten in Tarnkleidung herumzulaufen. Es wäre ja nicht nett, wenn die feinen Gäste des Hotels, die für ihren Aufenthalt eine hübsche Summe zahlten, täglich gezwungen wären, auf die Zerlumpten zu blicken – wie könnten sie sich erholen, wenn ihnen in einer Tour Gewissensbisse kämen. Das Geflügel würden die Leute zwar für die Füchse füttern und die Kaninchen wären mager, aber wenigstens wären sie aus den Augen und die Gemeinde würde die Stütze sparen. Und, ja – die Abfallhaufen. Von denen wären die Alten nicht gewillt gewesen sich zu trennen. Außerdem käme es viel billiger, sie zu bedecken, als sie fachgerecht zu entsorgen. Der Chef sei anständig, er lüde keinen Müll im Wald ab, alles ehrlich und grün.
Zum Abendessen verzichten wir wie abgemacht auf den Wein. Heute bleiben wir nüchtern. Mit jedem Gang scheinen die Portionen kleiner zu werden. Wir kommen darauf, dass das der Sinn des Slow Foods ist: je langsamer, ruhiger und weniger man isst, umso weniger braucht man, um satt zu werden. Bei der Scholle bleibt das meiste an den Gräten hängen und ein Drittel des Kuchens, der aus Freilandeiern und Wildbeeren hergestellt wurde, vermatscht auf dem Teller. Wir wollen schon aufstehen, als der Kellner an uns herangleitet und mit leiser Stimme fragt:
– Vielleicht wünschen Sie eine Degustation unseres hausgemachten Brandweins? Wunderbar. Eiskalt. Mit einer Moosbeere aus dem örtlichen Sumpf und eingelegten Gürkchen aus dem Gewächshaus hier im Hof.
Was passiert für gewöhnlich mit denen, die sich vorgenommen haben, einen Tag ohne Wein zu verbringen? Richtig, sie landen bei einer Degustation von Selbstgebranntem. Unmöglich, abzulehnen. Der Kellner legt Jazz auf, das Girl von Ipanema und noch was, das sich wunderbar zwischen das Kristall, das Slow Food und die gedrechselten Tischbeine schmiegt. Übel wird mir erst nach dem vierten oder fünften Glas, als die Flüssigkeit sich genug erwärmt hat, um widerlich zu riechen. Mit großer Anstrengung erreichen wir unser Zimmer. Draußen im Nebel heult ein Hund aus Richtung der Tarnstoffe, ein anderer schließt sich an. Ich drücke die Hoffnung aus, dass es Wölfe sind.
Vierter Tag und dichtester Nebel. Würden wir versuchen, ihn zu fotografieren, würde uns niemand glauben, dass es Nebel ist. Alle würden sagen, wir hätten ein weißes Blatt Papier abgelichtet. Wir sind hineingezogen worden, hineingeschlürft, verloren. Der ewige Nebel macht Kopfschmerzen. Die Bücher rührt keiner mehr an. Ich schreibe dies und das in mein Notizheft, versuche ein Gespräch mit meinem Mann, doch es wird immer schwieriger, sich zu konzentrieren. Der erste Teil des Satzes entspringt einem Gedanken, der zweite schon dem nächsten. Zusammenhanglos. Wir schleppen uns zum Restaurant und bitten um Prosecco. Die Bläschen sollten uns aufwecken. Mein Mann geht raus zum Rauchen, während ich die beschlagene Flasche aus dem Kühler ziehe, Tropfen auf die Tischdecke aus Naturleinen fallen lasse und mir Bubbelwasser nachschenke. Als er zurückkommt, bin ich schon ganz munter und höre ihm prustend zu, wie er irgend etwas über eine Scheune erzählt, in der er Koffer voll fremder Sachen gefunden hat, über Kinderrucksäcke in Form von Tiger und Pinguin, über Kinderwagen und Kindersitze. Völlig durchgedreht. Ich erinnere ihn daran, dass es für uns noch zu früh ist für Kinder, vielleicht in zwei, drei Jahren. Er erwidert, dass er im Ernst spricht, ihm zittern die Hände. Ich beharre darauf, dass wir unseren Kater behandeln müssen anstatt uns zu quälen und bestelle beim Kellner noch eine Flasche Schampus. Prost, mein Junge!
Wir haben verrückten Sex, wobei ich von den vielen Drehungen seekrank werde und beinahe spucken muss. Doch ich halte durch und der Sex wird ruhiger und besser. Wir schlafen bis zum Abendessen, ohne eine Zeile gelesen zu haben.
Ich weiß nicht, was auf dem Teller ist. Irgendetwas Regenbogenbuntes. Es schmeckt gut und langsam. Und Cognac mit Kaffee. Die Hektik der Großstadt und die Arbeit erscheinen wie eine weit zurückliegende Vision, die keinerlei Bezug zur Wirklichkeit hat.
Ins Bett gekuschelt versuche ich zu lesen, was ich in mein Heft geschrieben habe. Aber da sind nur Häkchen und Striche. Ich kann nichts entziffern.
– „Uaah, warum bin ich die ganze Zeit so verdammt müde?“, plärre ich, plötzlich aufrührerisch, meinen Mann an. „Hast du nicht auch das Gefühl, dass sie uns was ins Essen schütten? Vielleicht wollen sie uns auf Dope setzen?“
Doch mein Mann schläft schon.
Im Traum sehe ich bunte Fische.
Am vorletzten Tag gönnen wir uns zum Frühstück wieder ein Glas Schampus. Nur eins. Dann begeben wir uns an den Kamin, schaukeln und warten auf das Mittagessen. Ich murmele etwas von Sich-Gehen-Lassen, von Überdruss, von zu langem Urlaub und der Unruhe, die mich beschleicht, wenn ich an die morgige Abfahrt denke. Mein Mann stimmt mit ein. Wir geben uns gegenseitig das Echo zum leisen Gebrummel.
Beim Mittagessen fühlen wir uns völlig überfressen, wie kann man jeden Tag so viel in sich hineinstopfen! Wir bestellen nur Salat. Man bringt uns grüne Salatblätter, darauf hübsch geschnittene frische Pilze. Eine rote Soße krümmt sich am Tellerrand wie eine verwundete Schnecke. Wein bestellen wir nicht, aber der Kellner schenkt uns trotzdem ein – das sei ein Geschenk des Hauses für besondere Gäste. Wir seien sehr höflich und ruhig, nicht zu vergleichen mit den Gruppen, die hier manchmal herkämen, unter die Teppiche kotzten und sich nach dem Duschen am Vorhang abtrockneten.
Nach dem Essen geht mein Mann hinaus zum Auto – er muss nachsehen, ob es in dieser Nässe überhaupt anspringt. Ich warte auf ihn im Bett. Der Nebel ödet mich an. Nass, eintönig, farblos. Töne ersticken darin und Gedanken bleiben hängen. Hier geschieht nichts. Hier ist alles so aufreizend, nervtötend langsam.
Ich wache mit dem Buch über meinem Gesicht auf. Es ist schon dunkel. Das Bett neben mir ist unberührt. Von meinem Mann keine Spur. Ich müsste nachsehen gehen, bin aber zu träge. Versuche zu lesen. Nach fünf Seiten habe ich doch das Gefühl, das etwas nicht in Ordnung ist und ich nachsehen sollte. Auf einem Tisch im Foyer steht ein Krug Wasser mit Zitronenscheiben und Moosbeeren. Leicht bitter, aber frisch, ich trinke den halben Krug aus. Ich schlurfe ins Restaurant – niemand da. Unter der Küchentür scheint Licht durch. Ich gehe dorthin. Leer und still. Das einzige Geräusch im ganzen Hotel das Girl von Ipanema. Dab – da badada – dab – da badada – daa…
Ich gehe wieder aufs Zimmer, zwänge mich in meine Jacke. Ich muss zum Auto gehen. Vielleicht hat er sich dort hingelegt und ist eingeschlafen. Zitternd tauche ich in den dunkel gewordenen Nebel ein. Oh Gott, wie werde ich bloß diese Müdigkeit los? Der Parkplatz ist so weit, mich überkommt plötzlich das unbezwingbare Verlangen, mich hinzulegen und auf dem Weg auszuruhen, nur für einen Augenblick, eine halbe Minute, nicht länger. Aber ich bezwinge mich und gehe weiter. Die Silhouette des Autos ist schon ganz nah.
Ich greife nach dem Türgriff, aber meine Hand schlägt gegen etwas Glattes. Mit dumpfem Ton – boing. Ich versuche es nochmals, stärker. Wie zuvor, nur das Boing etwas lauter. Was ist das für ein Scheiß? Ich haue mit der Handwurzel auf den Wagen, dass der Schmerz bis in die Schulter schießt. Das Auto gibt einen leisen klagenden Ton von sich, schwankt und fällt um.
Das ist kein Toyota, zum Teufel nochmal. Eine Attrappe aus Sperrholz auf einem wackligen Gestell.
– „Weniger trinken, Mädchen, weniger trinken“, brummele ich bei mir, und wieder überkommt mich ein unbezwingbarer Wunsch, mich hinzulegen.
Die bunten Fische sind wieder da. Sie tauchen aus dem Nebel auf, wedeln um mich herum und singen. Sie singen vom Nebel, vom Glück, von Girls aus fernen Ländern, von der Langsamkeit und der Ruhe, von Kinderrucksäcken, die sich als Pinguine zu besseren Jagdgründen aufmachen, vom langsamen, langsamen Essen und dem großen, großen Genuss…
Fuck, Pinguine! Kleine Pinguine im Scheunle. Mit lautem Gebrüll schlagen sie sich durch mein abgestorbenes Gehirn, lassen eine glühende Panikwunde hinter sich. Ich kratze mich an der Backe, um aufzuwachen, um wenigstens ein bisschen Sinnzusammenhang zu finden, wenigstens eine winzige Gesetzmäßigkeit, aber die Gedanken fallen abwechselnd mit den Fischen zusammen in der Unvorhersehbarkeit von Glassplittern in einem Kaleidoskop.
Mit übermenschlicher Anstrengung halte ich mich auf den Beinen und bin mir nur über eines klar: dass ich nicht ins Hotel zurückgehen darf. Dort ist niemand. Dort ist mein Mann nicht. Hier ist mein Auto nicht. Mir wird unerträglich heiß. Ich reiße die Jacke auf und fange an zu rennen, so schnell ich kann. Das Wichtigste ist, den schlammigen Weg zu finden, dann wird’s schon. Es wird schon. Die Stadt und alles, wie es sich gehört. Zwanzig, dreißig Kilometer, mehr nicht. Ein Klacks.
Ich bin im Schlamm und im Lehm. Es ist furchtbar glitschig und sehr schnell komme ich nicht voran. Aber wenigstens ist es ein Weg. Ein Weg, der von der Mitte von Nirgendwo wegführt zu dem Ort, wo die Menschen zur Arbeit rennen, nervös zappeln, einander die Nerven rauben und abends nach sechs haufenweise ungesundes, fettes Essen in sich hineinstopfen. Einem Ort, an dem es sich nicht gehört, tagelang zu schlafen und zum Frühstück Burgunder zu schlürfen. Oder war das zum Abendessen? Egal. Der Nebel brennt in meiner vom Keuchen heiseren Kehle und ich muss immer wieder anhalten.
Aber stehen bleiben ist gefährlich. Sobald ich nachlasse in der Bewegung, fangen die Fische zu singen an. Sie wollen, dass ich mich ausruhe, dass ich mich an den Wegrand setze, mich beruhige.
Man darf den Fischen nicht nachgeben. Sie sind langsam und stumm. Sie leben im Nebel und wollen, dass ich dort bei ihnen bleibe.
Ich muss weiter rennen. Rennen, bis der Nebel aufhört, Bis die Müdigkeit in die Jacke geschwitzt ist und mich frei gibt.
Rennen, rennen, rennen. Fort. Fort.
Zwischen meinem keuchenden Atemholen höre ich plötzlich ein fremdes Geräusch. Schlack, schlack. Etwas platscht ganz in der Nähe mit leichten Tritten durch den Schlamm. Ich bleibe einen Moment stehen und blicke zurück. Der Nebel ist so dicht, dass ich noch eine Weile nichts erkennen kann. Aber dann sind sie da.
Drei große Hunde. Dobermänner, glaube ich. Sie tragen Regenmäntel mit militärischem Tarnmuster. Sie sehen aus wie Drillinge. Alle gleich. Gleich gekleidet, mit den gleichen aufgerissenen Mäulern, gleichermaßen still.
Sie werfen mich aufs Gesicht, greifen mich an der Schulter und ziehen mich fort. Zurück in den Nebel. Sie ziehen langsam, aber stetig. Anscheinend haben sie etwas durchgebissen – ich fühle einen heißen Strahl über Schulter und Brust rinnen. Aber vielleicht ist das auch nur ihr Speichel. Es ist gut so. Die Fische freuen sich, und ich kann mich endlich dem Schlaf hingeben.