Kristīne Želve: Die Sektparty des Jahrhunderts
(aus der Kurzgeschichte DER LIQUIDATOR, DER BRUDER DES SPINNERS; in: Kristīne Želve: Meitene, kas nogrieza man matus.
Rīga: Mansards, 2011
Eines Abends rief mich der Spinner an, wie üblich. Der Spinner rief mich jeden Tag an. Er musste unbedingt erfahren, was ich den Tag über gegessen hatte, denn der Spinner sammelte die Durchschnittsmahlzeiten des Durchschnittsletten in einer Datenbank. Täglich gab er genaue Informationen über die am jeweiligen Tag verzehrten Lebensmittel in seinen Computer ein. Diese Daten würden mit der Zeit zu einer bedeutenden anthropologischen Untersuchung führen, behauptete der Spinner, den Forschern der Zukunft, das heißt, den zukünftigen Erforschern der Vergangenheit würden sie wichtige Hinweise auf das Leben der Letten zu Beginn des 21. Jahrhunderts liefern, denn Essen sei einer der wichtigsten Faktoren, der Zeugnis einer EPOCHE ablegte. Der Spinner hatte errechnet, dass die vom Durchschnittsletten am häufigsten verzehrten Lebensmittel die folgenden waren:
1. Äpfel
2. Hefeteilchen
3. Quark
Das behauptete der Spinner. Was den Quark anging, glaubte ich ihm, in Sachen Hefeteilchen hatte ich Zweifel, und die Äpfel überzeugten mich überhaupt nicht.
„Na, und was hast du heute gegessen?“ fragte mich der Spinner, nachdem er in Einzelheiten erzählt hatte, wie er in dem grauen Laden ein Bier gekauft hatte, ein dunkles Vendenes, nullkommafünf, in einer Glasflasche, und ein Neunauge, lose zu vierfünfundzwanzig das Kilo, und gleich beim Laden, auf einer Bank in der Sonne sitzend, das Bier getrunken und das Neunauge vertilgt hatte. Die einfachen Freuden – damit befreien sich komplizierte Persönlichkeiten von sich selbst, dachte ich und berichtete folgsam über den Speiseplan des vergangenen Tages. Anscheinend hatte ich es trotz allem geschafft, heute etwas zu essen.
„Wollen wir nicht was trinken?“ erkundigte sich der Spinner, „ich habe einen Lat sechsundsechzig, wir können zusammenlegen.“
Ich gab zurück, dass ich drei Lat hätte, diese aber nicht zu vertrinken gedachte.
„Na gut,“ sagte der Spinner ruhig, „sag, kann ich bei dir auf ein Handy anrufen? Ich muss das Studio anrufen, es ist sehr wichtig.“
Der Spinner hatte einen Festanschluss, der für Anrufe in das Mobilnetz gesperrt war.
Ich seufzte.
„Nur ein ganz kurzer Anruf,“ bohrte der Spinner weiter.
Ich seufzte nochmals.
Eine Viertelstunde später kam der Spinner an. In der Tasche hatte er eine Flasche Sekt – ein Lat einundfünfzig, erklärte er und fügte hinzu: „Eine können wir doch wohl, am Samstagabend.“
Der Spinner ergibt sich nie ohne gewaltfreien Widerstand.
Wir entkorkten den Sekt und der Spinner legte los mit seinem Anruf „beim Studio“.
„Ciao,“ röhrte er in den Hörer, „was hast du heute gegessen?“
Glücklicherweise hatte das Objekt anscheinend nicht zu Mittag gegessen. oder sich mit einer Tasse Tee und einem Käsebrot begnügt.
„Willst du nicht zu mir kommen?“ bohrte der Spinner weiter, „ach, heute geht nicht? Wann denn? Morgen?“
So ging es eine ganze Weile weiter. Die Freunde des Spinners hatten gelernt, ihn zu nehmen wie das Wetter – man muss es akzeptieren, wie es kommt. Vor langer, langer Zeit, als ich noch eine bezahlte Arbeit in einer guten Firma hatte, verband ich den Morgen mit den elektronischen Piepsern des Zugangskodes, der meine Person identifizierte, den Piepsern des Computers beim Einschalten, der mein richtig eingegebenes Passwort identifizierte, und den allmorgendlichen Piepsern, die unsere Buchhalterin identifizierten. Die klangen so: „NA HEUTE IST VIELLEICHT EIN WETTER!!!“ Das Wetter versetzte sie immer in Empörung. Der Wind war stark, trocken, heiß, böig, stürmisch, staubtreibend, scharf, stechend, föhnig, eisig, er heulte, warf einem Blätter ins Gesicht, peitschte, ließ einen erzittern, fuhr einem durch alle Knochen, zerraufte einem die Haare, schmiss einen um, ließ einen sich ducken, riss einen fort, warf einen nach vorne, zog einen mit sich. Die Sonne hingegen brannte, schmorte, heizte ein, brachte einen zum Schwitzen, ließ den Schweiß fließen, glühte, stach, gloste, blendete, sengte, verbrannte, betäubte, grillte, machte benommen. Der Regen nieselte, tröpfelte, durchnässte bis auf die Haut, schauerte, strömte, tropfte, goss, floss, feuchtete, troff, sprühte, peitschte ins Gesicht, hämmerte, trommelte.
Das Wetter bestand kein einziges Mal die Identifizierung. Das Wetter war durchgefallen.
Aber: „Man muss das Leben nehmen, wie es ist,“ pflegte meine Großmutter zu sagen, und ich dachte mitleidig bei mir, da überlässt sich ein Mensch seinem Schicksal, schwimmt mit dem Strom, ergibt sich kampflos… „Die Zeit wird es zeigen,“ war ein anderer ihrer Sinnsprüche, und die Zeit zeigte, dass ich der Ausbildung und Pflege einiger völlig unnützer Eigenschaften viel eher Aufmerksamkeit zu schenken bereit war als der Aufrechterhaltung meiner Überlebensfähigkeit in geregelter Tätigkeit und Kampfbereitschaft. Tja, und jetzt sah ich zu, wie der Spinner die Tasten meines Telefons bearbeitete, ergab mich wieder mal mit den Worten „Man muss das Leben nehmen, wie es ist“ und stapfte ins Wohnzimmer, um eine CD aufzulegen:
Because the sky is blue, it makes me cry, bekannten die Vier aus der Stadt, von der ich nur den Namen kannte – Liverpool.
Als ich in die Küche zurückkam, war der Spinner immer noch am Telefonieren.
„Jetzt hör aber mal auf, von meinem Telefon aus anzurufen,“ sagte ich ihm.
„Ich muss doch meinen Tag planen,“ erklärte der Spinner würdevoll. Und fügte hinzu: „Willst du nicht noch einen Schampus? Du musst mir nur einen Lat siebenunddreißig geben, dreizehn habe ich, und dann hast du noch einen Lat dreiundsechzig übrig. Mehr als die Hälfte.“
Im Kopf hatte der Spinner es ja trotz allem noch. Übrigens konnte er all die Telefonnummern, die er dauernd anrief, auswendig. Unendlich viele Telefonnummern.
Einen Augenblick später war der Spinner wieder da mit sogar zwei Schampusflaschen.
„Die zweite hat sie mich anschreiben lassen,“ erklärte er, „auf dem Weg hab ich mir gedacht, was soll ich denn nochmal dahin rennen.“
„Wie – hat dich anschreiben lassen?“ fragte ich verständnislos, „warum?“
„Ich hab der Verkäuferin gesagt: Ja wstretjil djewuschku (Russisch: Ich habe ein Mädchen getroffen),“ erklärte er mir seine mephistophelische List, „da hat sie mir die Flasche gegeben.“
„Da, djewuschki ljubjat schampanskoje (Russisch: Ja, Mädchen lieben Sekt),“ hätte die Verkäuferin gesagt.
Und ich erzählte dem Spinner von der Sektparty des Jahrhunderts, die in der Imbissbar am Vorstadtbahnhof Zasulauks stattfand, einer der auch Zabegalovkas genannten Einrichtungen, wie es sie früher an jedem Bahnhof gab. Dort bekam man Bier vom Fass, das man im Stehen an kleinen runden oder an langen rechteckigen Tischen trinken musste, und die Imbissfrauen hatten an den Spitzen ausgebleichtes und am Ansatz dunkel nachgewachsenes Haar, Spitzenblüschen und türkisblauen Lidschatten. Unsere hatte außerdem kohlschwarze Augenbrauen, wie mit Filzstift gemalt. Es war in dieser Imbissbar von Zasulauks, dass wir Schneeflöckchen, die Sektpartykönigin, trafen.
„Ihr seid nicht von hier,“ sprach sie mich und Namejs an, „eure Gesichter sind anders. Ihr habt so zarte, feinfühlig gebildete Gesichtszüge. (Sie gebrauchte exakt diese Zusammensetzung – feinfühlig gebildet). Seid ihr vielleicht Geschwister?“
Wir waren keine Geschwister.
„Er ist mein Seelenbruder,“ sagte ich. Und das stimmte!
Wir kamen ins Gespräch. Mein Seelenbruder zog immer solche, wie er sie nannte, Stiefkinder der Welt, an. Er hatte sogar einmal eine Fotoausstellung geplant mit dem Titel:
stiefmutterseelenkinder
Eben. Natürlich blieb es beim Plan. Mein Seelenbruder fotografierte mit den Augen, schrieb mit Gedanken, dichtete mit Gefühlen. Er war ein Schriftsteller, der nicht schrieb, ein Komponist, der nicht komponierte, ein Maler, der nicht malte. So einer war er. Einmal hob er den Blick von seinem Buch und fragte mich: „Eins der Pythagoreischen Verbote lautete: „Schreibt nicht im Schnee!“ Was meinst du, warum? Ist Schnee vielleicht nicht elastisch genug?“
„Ihr seid der wahre Geistesadel, nicht die!“ verkündete Schneeflöckchen, nachdem sie dem Schriftsteller, der nicht schrieb, eine Weile gelauscht hatte.
Und setzte schnell hinzu: „Genau wie ich.“
„Lora, Schampanskoje!“ rief sie Lora mit den feinsinnig mit Filzstift gebildeten Augenbrauen auf Russisch zu, „ich lade euch zum Schampus ein! Der Adel trinkt Champagner! Nicht wir sind die Armen, die Armen sind die!“
„Ach mach die Armen endlich wieder arm,“ zitierte der Dichter, der nicht dichtete, Rilke.
„Erkennt ihr mich? Wisst ihr, wer ich bin?“ fragte uns wie in einem Verhör ein Elefantenkalb von Frau unbestimmbaren Alters, unbestimmbaren Geschlechts, aber mit Sicherheit kein Engel. Wir erkannten sie nicht. Wir wussten nicht, wer sie war.
„Schneeflöckchen! Erinnert ihr euch an Schneeflöckchen? Schneeflöckchen, auf dem Foto „Mädchen mit Eisblumen“ von Aivars Knāķis, Grand Prix neunundsechzig in Prag! Dieses Schneeflöckchen bin ich! Erinnert ihr euch?”
Ich erinnerte mich natürlich nicht. Aber ich wusste. Kannte. Ich kannte unzählige Mädchen – Mädchen mit Eisblumen, Mädchen mit Sonnenblumen, Mädchen mit Magnolien, Mädchen mit Margeriten, Mädchen mit weißen Rosen, Mädchen mit Bohnenblüten, Mädchen mit Taube, Mädchen mit Kette, Mädchen mit Sonnenschirm, Mädchen mit Affe, Mädchen mit blauem Absinth… „Ich bin keine Penelope,“ sagen sie ihrem Mann und ziehen in die Welt, um zum Mädchen mit Krug zu werden. Oder zum Mädchen mit Schwertlilie. Man trifft sie überall – in einer Bar, in einer verrauchten Bar, in einer billigen Bar, in einer heruntergekommenen Bar, überall. Im Bahnhofsimbiss von Zasulauks waren wir auf das Mädchen mit den Eisblumen gestoßen.
Lora brachte den Sekt.
„Na plastmassje nam nje padavaitje! (Russisch: Servieren Sie uns kein Plastik!)“ sagte barsch, sehr laut und dezidiert das Mädchen mit den Eisblumen, ein Vierteljahrhundert später.
„Bringen Sie das weg! Aus Plastikbechern sollen die trinken!“
Natürlich hatte sie auch mit Raimonds Pauls, dem Schlagerpianisten, zusammen getrunken. Haben Sie jemals einen Alkoholiker getroffen, der ein paar Jahre älter als Sie war und nicht zusammen mit Raimonds Pauls getrunken hatte? Ich nicht. Alle haben mit Raimonds Pauls getrunken! Entweder lügen sie alle, oder aber Raimonds Pauls hat wirklich furchtbar viel getrunken.
Lora goss den Sekt in Teegläser, Schneeflöckchen verkündete, dass sie die Sektparty des Jahrhunderts gebe, und als die zu Ende war, bezahlte ich die Rechnung. Amen.
In den Kurzgeschichten des Bandes Meitene, kas nogrieza man matus (Das Mädchen, das mir die Haare schnitt) schildert die Autorin das Lebensgefühl der lettischen Boheme in den neunziger Jahren, einer, wie sie sagt, Grenzperiode, die heute schon als historisch betrachtet wird. „Wir hatten den Sozialismus überlebt, aber uns noch nicht mit dem wilden Kapitalismus arrangiert. Wir lebten, tranken und starben vor uns hin und warteten auf das Ende der Welt, das zur Jahrtausendwende angesagt war.” Das Buch erschien 2014 in estnischer Übersetzung.