Nora Ikstena: Dēls (Der Sohn)
Aus dem Lettischen von Nicole Nau
(aus: Dzīves stāsti. Rīga: Atena, 2004)
Als Marija aus dem Wald kommt, reicht das Wasser auf der Wiese ihr bis zu den Knien. Ein kleines, kleines, nasses Waldkind. Der schwere Korb mit den Pilzen zieht sie zu Boden. Das alte Hündchen ist verschwunden. Der Regen hat es wohl fortgespült. Ein solches Wetter hatte sie noch nie erlebt. Das Wasser flutete aus dem Wald, stürzte wie ein Wasserfall über den Berg. Marija klammerte sich an eine Espe und hielt den Strömen stand. Warum hat die Flut das Hündchen mit sich genommen und nicht den Korb mit den Pilzen? Mit letzter Kraft tritt sie über die Schwelle. Die Daheimgebliebenen – Hund, Hündin und Kater – umspringen die Heimgekehrte, froh, dass sie zurück ist, werfen sie um. Marija sinkt auf die Bank beim alten Ofen und weint. Die Hunde machen sich zuerst auf die Suche nach dem alten Hündchen, dann drehen sie um und stupsen ihre Schnauzen an Marijas nasse Wangen. Eine Weile beweinen sie zu dritt das alte Hündchen, das die Flut davongetragen hat.
Nach dem Regen ist die Luft steif und duftig. Marija zieht sich um, nimmt den Korb und geht zum Pilzesäubern auf die Veranda. Der Hund und die Hündin lassen sich links und rechts von ihr nieder, lauschen auf Geräusche vom Wald, um die Hausecke. Wittern die steife Luft.
Sie nimmt die Pilze einzeln aus dem Korb, säubert sie von Blättern, Tannennadeln, Moos und legt sie in den alten gusseisernen Topf. Als sie eine doppelköpfige Rotkappe in die Hand nimmt, versinkt sie in Gedanken. Sie hält in einer Hand den Pilz, in der anderen das Messer, ihr Blick schweift in die Ferne. Dort, hinterm Wald, ist ihre Kirche. Man öffnet die Tür und drinnen wächst Gras, in den Fensterbögen nisten Vögel, Maulwürfe lockern den Boden um den Altar. Dort betet sie. Sie glaubt fest an Gott. Sie liebt ihn, auch wenn er ihr erst den Sohn, nun auch das alte Hündchen genommen hat. Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen. In seine liebe Hand.
Im Hof haben die Regenströme Wege ausgehöhlt. Spuren der Flut. Äderung der Erde. In seine liebe Hand.
Mit der doppelköpfigen Rotkappe in der Hand schaut sie auf das grau schimmernde Licht, das aus dem Wald kommt. Immer meint sie, das Licht verdichte sich zur Gestalt eines Menschen und ihr Sohn tritt aus dem Wald und kommt aufs Haus zu. Mal mit Axt und Zweigen, mal mit einem Korb voll Pilzen, mal mit dem Beereneimer, mal in Stiefeln, mal barfuß, mal mit Mütze, mal mit offenem Haar bis zur Schulter… Solange er nicht verblasst, weiß sie, was frohe Erwartung bedeutet, Liebe erfüllt ihr Herz.
Heute rollt voraus ein kleineres Lichtknäuel wie eine Bote, ein Herold, ein Kundschafter. Das alte Hündchen. Komm nach Hause, kleiner Hund, komm nach Hause, liebes Hündchen, du nasse Klette, kleine Sumpfhechel, will Marija über das Feld rufen. Dann kommt ihr Sohn – durchnässt, mit bloßem Haupt, mit nassem Haar, barfuß. Ich komme schon, Söhnchen, ich heize die Badestube für dich, ich koche dir Tee, an dir ist ja kein trockenes Fädchen, ich komme, wärm dich auf. Marija führt das Licht in die niedrige Küche.
Beim Flechtzaun des Blumengartens lösen sich die Ankömmlinge auf.
Marija wirft die doppelköpfige Rotkappe in den gusseisernen Topf, lässt die restlichen Pilze ungesäubert, wickelt sich ein wärmeres Tuch um, ruft die Hunde und geht zur Kirche.
Irgendwo in weiter Ferne grollt es noch. Die drei gehen den regendurchtränkten Weg über die Wiese. Braune Kletten verfangen sich im Fell der Hunde, in Marijas Tuch. Die Gehenden hinterlassen keine Spuren, kleine Grasbüschel, die sie niedertreten, richten sich hinter ihnen wieder auf. Niemand soll den Weg dieser drei kennen. Niemand soll ihnen folgen. Niemand soll ihren Gang stören.
Die nasse, regenschwangere Wiese nimmt sie auf in ihren breiten Schoß. Auch Marija war einst wie eine nasse, regenschwere Wiese mit breitem Schoß. Damals, als sie schläfrig in der Herbstsonne Bohnen aushülste, sah sie schon voraus, dass der Sohn ihr genommen würde. Sie sah die Geburt ihres Sohnes – schnell, leicht, fast ohne Schmerzen, dann sah sie ihn im Hof aus frisch gemähtem Gras den Vögeln Nester bauen, dann wusch sie ihrem Sohn die schmutzigen kleinen Füße, zog ihn an, machte sich selbst fertig und sie gingen zum Bus, um in die Stadt zu fahren. Für ihr tägliches Brot und was sie so brauchten. Am Busbahnhof in der Stadt sprach sie ein aufdringlicher Mensch an. Er hatte zwei Bücher in der Hand und eine Tasche voll Bücher zu seinen Füßen. Er packte Marija beim Arm, sagte, sie sei so schön und sie habe so einen schönen Buben. Sie seien sicher glücklich. Aber das würde nicht immer so sein. Sie solle für einen Lat dieses Buch kaufen, daraus könne sie lernen, wo das wahre Glück wohne, welches niemals ende. Marija schüttelte die Hand des Mannes ab. Sein Gesicht war finster, als er ihnen beim Weggehen sagte: Dein Sohn wird dir genommen werden.
Irgendwo in weiter Ferne grollt es noch. Die Hunde brechen immer wieder mal aus und ziehen Kreise durch das nasse Gras. Vielleicht suchen sie das alte Hündchen. Auch Marija bleibt hin und wieder stehen, ruft ihren Gefährten zu: Such, such, such, such…
Sie suchen, suchen, suchen, suchen. In jener Nacht, nachdem sie und ihr Sohn aus der Stadt zurückgekehrt waren, konnte sie lange nicht einschlafen. Böse Träume kamen ihr. Sie kaufte Hornhechte bei einem der Fischer auf dem Markt. Der Sohn sagte, sie solle diese Fische nicht kaufen, anstelle von Mündern hätten sie Schnäbel wie Raubvögel. Der Fischer lachte und sagte, die Dame solle nicht auf die albernen Geschichten ihres Jungen hören. Als sie mit den Hornhechten in der einen Hand und dem Sohn an der anderen den Marktplatz überqueren wollte, sah sie, dass er eingezäunt war. Darum herum wimmelte es von Menschen mit Filmkameras, Mikrofonen, Scheinwerfern. Andere standen in Gruppen zusammen und schienen auf etwas zu warten. Sie wollte schon außen herum gehen, als derselbe Mann, der das Glücksbuch für einen Lat feilgeboten hatte, atemlos auf sie zugerannt kam. Er trug jetzt andere Kleider, er sah müde aus, aber er machte ein freundliches Gesicht. Er sagte Marija, sie würden hier einen Film drehen und ihm sei, als er sie sah, aufgegangen, dass er für eine Episode Marija mit den Hornhechten in der einen Hand, dem Sohn an der anderen Hand, so, wie sie hier stand, brauchte. Er würde sie und den Sohn dafür bezahlen. Es würde nicht lange dauern. Ach, bitte. Marija sah ihn mit großen Augen an, der Sohn, der sich vor den Fremden fürchtete, fing an zu weinen. Sie würden den Bus verpassen, sagte Marija. Und der Kleine habe Angst. Seine Mitarbeiter würden sie fahren, wohin sie wolle. Er zahle 25 Lat. Und der Junge würde sich schon beruhigen, es würde ihm noch gefallen. 25 Lat – Marija wollte ihren Ohren nicht trauen. Wofür? Dafür, dass sie mit den Hornhechten in der einen Hand, dem Sohn an der anderen Hand über den Marktplatz ginge und sich unter die Menge mischte. Wo diese Menge sei? Die würde er sofort herbeiführen. Wie er die denn herbeizuführen gedenke? Er würde Statisten herbeirufen. Wo die denn wohnten? Der Mann fing an zu lachen, ging fort und sprach mit den Leuten, die in Gruppen herumstanden. Als er zurückkam, fragte Marija ihn, ob sie und ihr Sohn auch Satisten sein würden. Statisten, verbesserte er, nein, sie seien eine Stufe höher, sie stellten dar, sie hätten beinahe eine episodische Rolle. Und dann ging es los. Der kleine Platz füllte sich mit Menschen. Marija musste von einer Ecke her kommen, mit den Hornhechten in der einen Hand und dem Sohn an der anderen, und sich unter die Menge mischen. Einmal, nochmal, ein drittes Mal… Und endlos so weiter. Sie mischte sich unter die Menge, kehrte zum Ausgangspunkt zurück, mischte sich wieder unter die Menge. Der Mann saß auf einem Hochsitz und brüllte die ganze Zeit: Nochmal, nochmal, nochmal. Geduldig wiederholte sie die Szene dutzende Male, bis sie endlich aus der Menge herauskam und nur noch die Hornhechte in der Hand hatte, der Sohn war verschwunden… In diesem Moment erwachte Marija, von kaltem Schweiß überströmt, sie sprang auf, rannte zum Bettchen ihres Sohnes, sah, dass er ruhig schlummerte. Sie warf sich auf die Knie, weinte leise und bat den lieben Gott, ihr solche Alpträume nicht mehr zu schicken.
Such, such, such…, ruft Marija ihren Hunden zu. Sie glaubt nicht, dass sie das alte Hündchen finden. Die Flut hat es fortgespült. Und sie kannte keinen anderen Hund, der so lange gelebt hätte. Das alte Hündchen wurde zu Ostern geboren. Insgesamt waren sieben im Wurf. Der Sohn wollte kein einziges im Eimer ertränken. Er fuhr die Nachbarhäuser ab und bot die Welpen an. Weite Wege legte er mit seinem Beiwagen zurück. Mit einem einzigen kehrte er heim und sagte, der würde sein Freund fürs Leben. Er hatte in einem Karton die weiten holperigen Wege im Beiwagen ausgehalten. Marija gab dem Hündchen ein Schüsselchen Grütze, tätschelte es, kraulte es hinterm Ohr. Am Nachmittag machten die beiden sich zur Aufführung im Hof des Dorfgemeinschaftshauses auf. Jedes Jahr spielte der Sohn dort Mundharmonika und Quetsche. Jedes Jahr ging Marija mit in der Hoffnung, eine Frau für ihren Sohn zu finden. Sie kannte auf dieser Welt keinen zweiten derart gutherzigen, schüchternen und liebenswürdigen Menschen wie ihren Sohn. Doch die Frauenzimmer gingen ihm aus dem Weg und er ihnen. Die beiden machten sich zurecht, wie immer, wenn sie unter Leute gingen. Der Sohn warf sich die Quetsche über die Schulter, steckte die Mundharmonika in die Tasche, barg das Hündchen an seiner Brust unter der Jacke. Während er spielen würde, sollte Marija auf das Hündchen aufpassen. Gut, mein Sohn. Zwar hatte sie Wichtigeres im Sinn, aber mit dem Hündchen würde sie auch schon noch zurechtkommen.
Ein ganz zartes, kaum zu merkendes Grün hat sich gerade erst in den Bäumen eingenistet, als sie über den erwachenden Weg zur Osteraufführung gehen. Es ist kein sonniger Tag, er ist grau wie viele andere, aber ihnen ist fröhlich zumute. Das Hündchen schläft an der Brust des Sohnes. Marija sieht ihren Sohn an und denkt, sie könnten ihr ganzes Leben lang so leben, wenn es nur üblich wäre. Sie leben ja schon so, auch wenn es nicht üblich ist. Andere halten ihren Sohn für sonderbar, denn er ist nicht so wie die anderen. Es scheint ihr gar, er sündigt nicht.
Im Hof des Dorfgemeinschaftshauses herrschen Betriebsamkeit und Unruhe. Der Hauptdarsteller ist erkrankt. Die junge Regisseurin rennt hektisch herum. Als sie Marijas Sohn erblickt, greift sie ihn sich sofort und zieht ihn unter das Vordach. Erstmal kippt sie ein Gläschen scharfen Schnaps, dann sagt sie: Du musst Jesus Christus darstellen, wie er aufersteht. Ans Kreuz schlagen tun wir nie, es ist nicht viel zu machen, du musst nur erscheinen, die Arme ausbreiten und wieder verschwinden. Wer macht dann die Musik, fragt Marijas Sohn. Das geschieht in völliger Stille. Die Regisseurin kommt in Fahrt. Die restliche Zeit spielst du, fügt sie hinzu und eilt davon.
Der Sohn geht zu Marija, die bei den Frauensleuten herumschafft, ruft sie zur Seite und sagt, er werde auferstehen. Marija überläuft es kalt, Harmonika spielen ist eines, aber darstellen… Sie erinnert sich, wie sie sich mit den Hornhechten in der einen Hand, dem Sohn an der anderen unter die Menge gemischt hatte. Das war nur ein Traum gewesen, aber hier war die Wirklichkeit. Sie bittet ihren Sohn abzusagen, aber er meint, man müsse den Leuten helfen. Das Hündchen nehme er mit, Marija solle ruhig ihren Angelegenheiten nachgehen.
Als die Aufführung beginnt, setzt schon eine leichte Dämmerung ein. Die Klänge der Mundharmonika entführen die Zuschauer in eine ferne Vergangenheit, wo Freunde am gedeckten Tisch den Sohn Gottes verraten. Er wird ans Kreuz geschlagen, in ein Leichentuch gewickelt. Marija kennt die Geschichte auswendig, aber sie zittert am ganzen Leib – wann, wann wird er bloß erscheinen. Ihr auferstandener Sohn. Die kleine Bühne versinkt in Dunkelheit. Die Stille hallt in den Ohren. Jemand zündet im Dunkeln Kerzen an, und jetzt erscheint ihr Sohn. In Weiß gewandet, mit langen Haaren aus Werg. Das Hündchen in der Hand. Er tritt an den Bühnenrand, schlägt ein Kreuz und segnet sie alle mit dem Hündchen. Das Hündchen zappelt mit den kleinen Beinen und lässt beim Segen ein Bächlein ab. Die Dorfbewohner fallen vor Lachen fast zu Boden. Marija schlägt die Augen nieder, sie begreift, dass ihr auferstandener Sohn hier niemals eine Frau bekommen wird.
Der Weg durch die Wiese ist zu Ende. Die Hunde wissen schon – jetzt geht es durch den Wald, dann sind sie bei der Kirche angekommen. Der Wald ist nass und dunkel. Verweint und traurig. Die triefenden Zweige beugen sich in Buckeln zu Boden. Auch Marija ist in sich zusammengesunken wie der triefende Wald. Sie hat die Augen emporheben wollen, aber der Kummer hat sie niedergedrückt. Wer kann schon mit dem Kopf im Nacken weinen? Sie weint, das Gesicht in den Händen, den Rücken gebeugt.
Auf dem Heimweg von der Osteraufführung schwiegen sie. Der Sohn spielte in der warmen Nacht auf der Harmonika, sein Freund fürs Leben schlummerte unter seinem Arm. Als er sein Spiel beendete, sagte er lachend: Hast du gesehen, dieser Racker, hat ein Bächlein abgelassen. Marija musste auch lachen; um den Weg zu verkürzen, stimmten sie ein fröhliches Lied an. Sie würden leben, wie es nicht üblich ist, aber ihre Tage würden erfüllt sein und schön wie frisch gelegte nestwarme Eier, wie das Junge, das die Katze im Futtertrog versteckt hatte, und immer schaute die Kuh, bevor sie sich an das Heu machte, erst vorsichtig nach, ob sie ihm nichts zuleide täte.
Dann beschließen sie noch in dieser Osternacht, einen Umweg zu machen und zu ihrer Kirche zu gehen. Kein anderer geht dort hin. Man macht die Tür auf und drinnen ist nackter Boden im Winter, grünes Gras im Sommer. Wo einmal der Altar war, legen Marija und der Sohn immer wieder auf andere Art ein Kreuz. Mal aus Körnern, mal aus Äpfeln, mal aus Tannennadeln, mal aus Blüten, mal aus Blättern, einmal gar aus Schnee.
Als sie bei der Kirche ankommen, ist der Mond aufgegangen. In der Kirche ist es hell wie am Tag. Dennoch anders. Marija setzt sich mit dem Hündchen im Arm auf die kleine Holzbank, die der Sohn ihr hergerichtet hat. Der Sohn sucht Kerzen, zündet sie an. Bessert das im Vorjahr gelegte Tannennadelkreuz aus, das noch gut erhalten ist. Warme Luft strömt durch die leeren Fenster, irgendwo in der Ferne tiriliert ein Vögelchen. Marija zieht einen Beutel hervor, darin sind ein paar Eier, einige Piroggen und ein Fläschchen Beerenwein. Sie nehmen jeder ein Ei in die Hand und schlagen sie gegeneinander. Marijas Ei zerbricht als erstes. Heimlich freut sie sich darüber, denn das bedeutet, dass sie als erste sterben wird. In der Stille verzehren sie die Eier, essen Piroggen dazu, trinken Wein. Sie reden nicht. Was gibt es auch zu sagen? Sie würden diese Welt selbst dann wählen, wenn sie von anderen wüssten. Andere Welten wissen nichts von ihrer. Wissen nicht, was sie wissen. Dass Gott abends hier durchs Fenster hereinströmt wie die freie Luft, sich nachts zum Schlafen zu den Vögeln ins Nest legt und am Morgen als Tau erscheint im Gras, das anstelle des Fußbodens wächst. Sie sehen ihn, er verbirgt sich ihnen nicht.
Irgendwo in weiter Ferne grollt es noch, als Marija mit den Hunden bei der Kirche ankommt. Jedesmal, wenn sie kommt, ist die Tür schwerer geworden, aber Marija weiß – das liegt nicht an der Tür. Wie sie die Tür öffnet, huscht ein kleines Waldtier davon, die Hunde jagen ihm freudig hinterher. Die Kirche ist triefnass, der Gewitterwind hat allerlei Hölzchen hereingetragen. Marija liest sie zusammen, legt aus ihnen ein kleines Kreuz an der Stelle des Altars. Fegt die Bank ab. Setzt sich müde hin. Sie wendet sich nicht an ihren Freund, sagt bloß halblaut: Warum hat die Flut das alte Hündchen genommen, nicht den Korb mit den Pilzen… Sie hat jetzt etwas Neues zu sagen. Als sie noch mit dem alten Hündchen hierher kam, sagte sie: Warum hat das Leiden den Sohn genommen, nicht Marija? Müde sitzt sie auf dem Bänkchen. Sie sieht Gottes warmen Atem, der aus dem regendurchtränkten Moder aufsteigt.
Das Siechtum des Sohnes begann, als das Hündchen schon tüchtig herangewachsen war. Bei den Osteraufführungen saß es immer treu zu Füßen seines Herrn. Wenn der Sohn Harmonika spielte, sang das Hündchen mit. Solche Freunde hat Marija ihr Leben lang nicht gesehen. Was brauchte er eine Frau. Das böse Leiden höhlte den Sohn von innen aus. Der Dorfarzt sagte, er müsse in die Stadt fahren, ins Krankenhaus. Der Sohn sagte, er würde selbst damit fertig werden. Marija kochte ihrem Sohn Tee, steckte ihn ins Schwitzbad, band ihm Fädchen ums Handgelenk. Nichts half. Nächtelang betete sie am Bett des Sohnes zu ihrem Freund. Sie saß am Kopfende, das Hündchen am Fußende, keiner machte ein Auge zu. Als der Sohn einschlief, machten sie und das Hündchen sich auf den Weg zur Kirche. Er hatte sich nirgendwo verborgen, ihr Gebet hörte er an. Aber den Sohn nahm er dennoch. Marijas einzigen Sohn.
Irgendwo in weiter Ferne grollt es noch. Marija hört hinter der Kirchentür das Gebell der Hunde, die das kleine Waldtier jagen. Sie steht auf, um nach Hause zurückzugehen. Es wird dunkel. Auf der Wiese verdichtet sich der Nebel und Marija sieht wieder ihren Sohn – den Auferstandenen, so wie damals bei der Osteraufführung, mit dem Hündchen im Arm, als der, dieser Racker, ein Bächlein abließ. Die Nebelgestalt stapft neben ihr her, bis sie am Flechtzaun des Blumengartens verschwindet.
Marija zündet den Ofen an, füttert die hungrigen Hunde, säubert die restlichen Pilze, setzt sie auf. Zum Abendbrot isst sie die doppelköpfige Rotkappe und eine Scheibe Schwarzbrot mit Butter, trinkt Tee.
Die Hunde richten sich auf ihren Decken ein. Sie bewachen Marijas Nachtruhe. Während sie in den Schlaf sinkt, vergießt Marija im Dunkeln leise Tränen. Und noch leiser fragt sie ihren Freund: Warum den Sohn, nicht Marija, warum das alte Hündchen, nicht den Korb mit den Pilzen? Als der Regen einsetzt, schläft Marija ein.
Am Morgen haben die Regenströme im Hof Wege ausgehöhlt. Spuren der Flut. Äderung der Erde. In seine liebe Hand.
Nora Ikstena ist eine der bekanntesten und wichtigsten lettischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden und werden auch in andere Sprachen übersetzt (darunter nicht nur Schwedisch und Russisch, sondern sogar Albanisch und Hindi!). Eine Auswahl ihrer Kurzgeschichten auf Englisch erschien 2013 unter dem Titel Life Stories (Übersetzung Margita Gailitis) im kanadischen Verlag Guernica.