Das Champignonvermächtnis

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Laima Muktupāvela: Das Champignonvermächtnis

Lettisches Original: Šampinjonu derība. Rīga: Daugava, 2002

Aus dem Lettischen von Berthold Forssman

Bonn: Weidle Verlag, 2008

 

EINEM GESCHENKTEN GAUL SCHAUT MAN NICHT INS MAUL

Der Rekrutenwerber greift flink nach dem Umschlag, den ich ihm hinhalte, und überfliegt mit routiniertem Blick die Scheinchen. Und von denen ist eine ganze Menge drin: grüne Dollars, aber auch 50-Lat-Scheine mit Segelschiffen, die aussehen wie geklont. Als Gegenleistung reicht er mir ein Ticket Riga-Kopenhagen-Dublin.

Ich bekomme noch ein paar erbauliche Worte mit auf den Weg: Niemand hält dich dort fest, und wenn es dir nicht gefällt, dann kommst du halt nach einem Jahr wieder nach Hause zurück, überweis das Geld per Bank, bloß nicht per Brief nach Hause schicken, denn damit subventionierst du die diebischen lettischen Postboten, sieh zu, daß du die Sprache lernst, den Weg wird du schon irgendwie finden, na, dann mal Hals- und Beinbruch! Und gleich geht’s weiter beim nächsten. Leute meines Schlages, von denen er Vermittlungsgebühren kassiert. Leute, die unsicher sind und Angst haben wie vor einem Kopfsprung ins Wasser, von dem man nicht weiß, wie tief es ist.

Im Rekrutenwerber-Büro wartet eine ganze Reihe von uns. Und wir alle sollen schon übermorgen ins gelobte Land fliegen.

Also noch ein freier Tag, um die Taschen zu packen. Oder auch, um sich endlich mal von seinem Gepäck zu erheben. Wie ich gehört habe, warten manche schon seit fünf Monaten oder sogar noch länger auf einen Job. Sie leben in der Hoffnung, daß irgendein irischer Chef genau ihre Hände und ihren Rücken braucht. Die gepackten Taschen stehen die ganze Zeit in der Ecke, weil niemand weiß, nach welchen Kriterien die Bosse ihre Arbeitskräfte aussuchen.

Obwohl es viele Faktoren gibt, die in Erwägung gezogen werden müssen, müßte ich nicht allzulange überlegen, wen ich auswählen würde, wäre ich selbst so eine Sklavenhalterin, zum Beispiel irgendwo in Mississippi.

Die Männer → groß, schlank, aber gut genährt, mit kräftigen Muskeln, gesunden Zähnen, ohne Familien und daher bereit, überallhin zu gehen und alles zu tun und sogar die Welt aus den Angeln zu heben, falls das jemand von ihnen verlangt. Solche, die furzend, scheißend und mit blutigen Nasen die Arbeiten erledigen, die ich ihnen auferlege. Und sie tun sie für einen Spottpreis, weil ich weder über die Mittel verfüge, teure Technologien für den Pyramidenbau anzuschaffen, noch den Wunsch verspüre, mich selbst mehr anzustrengen als unbedingt notwendig.

Dann weiter → die Frauen: Kommt ganz darauf an, für welche Aufgaben ich sie brauche. Auf jeden Fall sollten sie gesund, kinderlos und möglichst unattraktiv sein, damit sie meiner Familie nicht gefährlich werden (gesetzt also weiterhin den Fall, daß ich tatsächlich Sklavenhalterin und mein Ehemann wie alle anderen Männer wäre), Ausbildung und Arbeitserfahrung würden keine Rolle spielen, denn sie würden sowieso nur Tätigkeiten erledigen, die leicht zu erlernen sind.

Wie ich zum Beispiel. Ich soll in Irland Pilze pflücken gehen.

Oder nein, genau andersherum: Am besten lassen sie zu Hause eine ganze Schar Kinder zurück, denn dann arbeiten sie um so mehr, um ihrer Brut die ewig hungrigen Mäuler zu stopfen. Dann nehmen sie alles und noch viel mehr ohne Murren in Kauf, bloß damit es ihren Kindern an nichts gebricht.

Ungefähr so.

Eine andere Rekrutenwerberin sitzt am Computer und beantwortet gleichzeitig die eingehenden Telefonate.

„Hallo! Ja, ich höre Sie sehr gut! Mmm, warten Sie bitte einen klitzekleinen Augenblick … Jawohl, es ist eine Anfrage nach Ihnen gekommen. Sie können also zu uns kommen, wegen der letzten Unterlagen. Welche Aufgabe anfällt? Momentchen, was heißt das hier doch gleich? Ah, Aushilfe im Schlachthof … Sorry, daß Sie einen Hochschulabschluß haben, spielt hier ja wohl absolut keine Rolle! Also, wie ist es, kommen Sie vorbei wegen der Papiere?“

Das Gespräch ist zu Ende, aber die Rekrutenwerberin schnauft noch ein Weilchen vor sich hin, also hör mal, wenn die ihre Nase so hoch trägt und in ihrem erlernten Beruf arbeiten will, dann soll sie doch zusehen, wo sie bleibt, hahaha! …Da im Schlachthof verdient sie immerhin gutes Geld, und damit basta!

Sie führt sich genauso auf wie die Angestellten im Arbeitsamt. Die empfangen Arbeitslose in ihren Büros mit einem Lächeln im Gesicht, behandeln einen aber in Wirklichkeit wie eine Null, wie ein Nichts, wie den letzten Faulpelz, einen Vollidioten oder eine gescheiterte Existenz.

Im Bewußtsein ihrer enormen Überlegenheit knallen sie den Arbeitsuchenden die Liste mit Stellen vor, für die dringend Leute gesucht werden:

  • Versicherungsagent (heißt im Klartext: Arbeit für ein paar Groschen in Form von Prozenten an den abgeschlossenen Verträgen, dabei gibt es auf dem Land sowieso nichts zu versichern, weil dort alle lukrativen Aufträge schon vergeben sind)
  • Bäcker (= Drei-Schicht-Betrieb, für ein Gehalt, das so trocken ist, daß es einem zu den Ohren rausstäubt)
  • Landwirtschaftsgehilfe (= Leben von der Hand in den Mund, während die Bauern selbst zusehen, daß sie es wie die klügeren Ratten machen und das sinkende Schiff namens Landwirtschaft rechtzeitig verlassen)
  • Sägewerksangestellter (na los, hopp, ab mit dir ins Sägewerk, aber auf den Lohn für deine Schufterei wartest du dort monatelang vergeblich)
  • Verkäuferin (ach, der Laden, der mich auf die Straße gesetzt hat, weil ich ihm zu alt geworden war, sucht schon wieder eine jüngere Mitarbeiterin)

„Na los, was ist, wollen Sie eine Stelle oder nicht? Sie brauchen gar nicht so überheblich aufzutreten! Wir kommen Ihnen hier weit entgegen, und Sie rümpfen bloß die Nase, dabei haben Sie keine Ausbildung, absolut keine, freuen Sie sich gefälligst, daß wir überhaupt etwas für Sie haben. Und denken Sie daran, wenn Sie dreimal ablehnen, sind wir nicht mehr verpflichtet, Ihnen überhaupt einen Job anzubieten …“

Meine Leidensgenossen erwartet dasselbe Schicksal wie mich. Jeder von ihnen fährt in eine andere irische Stadt, nach Cork, Dublin oder Monaghan. Meinen Zielort finde ich nicht einmal auf der Landkarte, und keiner hier fährt mit mir dorthin.
Ach du liebe Zeit, ich bin bislang nur mit dem Bus oder mit dem Zug verreist und auch bloß innerhalb von Lettland, und jetzt habe ich einen Weg vor mir, auf dem es keinen Weg gibt. Ich muß fliegen … mutterseelenallein …

Sprüche wie die, daß ich die Sprache schon lernen werde oder daß ich schon nicht verloren gehen werde, machen mich erst recht nervös. Ich kann nur Lettisch und Russisch, Englisch hatte ich zwar irgendwann mal in der Schule, weiß aber bestenfalls noch ungefähr, wie es klingt. Na gut, das ist wenigstens ein schwacher Trost. Ich ringe mir ein Lächeln ab, als ich das Büro verlasse. Der Werber ruft mir noch hinterher, daß er mir viel Glück und vor allem viel Geld wünscht. Immerhin etwas.

Ich klappere die Rigaer Geschäfte ab und überlege, was ich vor meiner Abreise noch besorgen muß. Was brauche ich dort beim Geldverdienen? In Irland regnet es bekanntlich viel, also besorge ich mir ein Plastikcape + Gummistiefel, schließlich werde ich dort durch Pfützen waten. Außerdem Arbeitshosen, Handschuhe, Socken und diversen Kleinkram, das war dann wohl auch schon alles.

Nein, das war noch nicht alles.
Ich habe mich noch nicht verabschiedet.
Und heute abend muß ich allein schlafen.

Aber ich will nicht allein bleiben und Trübsal blasen. Ich will einen warmen Menschen an meiner Seite. Wo treibe ich so jemand auf? Kaum zu glauben, aber Züge sind besonders dankbare Orte. Also werde ich nach Ogre fahren. Zu Elločka.
Alle Zeichen sind mit mir. Ich weiß schon, daß mich irgend jemand begleiten wird. Vielleicht auch deshalb, weil ich immer das beste aus jeder Situation mache. Darum lande ich immer wieder auf den Füßen, wie eine Katze, die aus einem oberen Stockwerk herunterfällt, oder ich kralle mich in letzter Sekunde doch noch irgendwo fest. Und siehe da, im Zug sitzt, ans Fenster gelehnt, ein Mann, wie vom HErrn geschickt! Keiner hat sich neben ihn gesetzt, er wirkt ein bißchen seltsam. Er trägt einen schwarzen Mantel, keine besonderen (ich meine vielmehr normale dunkle) Hosen, an den Händen schwarze Lederhandschuhe. Schwarze Halbstiefel, die von Schnürsenkeln in einer eigentümlichen Knotenschrift zusammengehalten werden. Zickzackzack, tamtaramtamtam und dann wieder ratzfatz zickzickzack

Und dann auch noch ein Rothaariger, die mag ich ganz besonders! Wenn ich einem Rothaarigen ein Kompliment mache, daß seine Haare den glühenden Schein der Herbstsonne eingefangen haben und blablabla – dann gehen sie mir reihenweise auf den Leim. Man muß es nur in einem solchen Tonfall sagen, daß es nicht klingt wie aus dem Mund einer pensionierten Lehrerin für Literatur. Ohne Pathos, nur einfach und herzlich, dann glauben sie es einem. Und es ist nicht einmal gelogen: Rote Haare haben etwas Schicksalhaftes!

Als seine Bißchenseltsamkeit erweist sich sein offenes Gesicht. Es ist so rein. Ein Blick ohne Verlogenheit und voller Gutherzigkeit. Er entwaffnet einen bis auf die Knochen. Seine Augen sitzen tief verborgen, wie in Höhlen, ach, blaue Augen, die gar nicht auf uns Nebensitzende gerichtet zu sein scheinen. Gleichzeitig aber wirft er mit diesen Augen sein Lasso aus wie ein Cowboy und fängt damit die Blicke der übrigen Passagiere ein. Und dann die absolut unwiderstehliche Krönung des Ganzen: ein weißer Schal! Genau dieser weiße Schal erhebt ihn über das banale alltägliche Einerlei. Wer trägt so etwas heutzutage schon noch? Höchstens die Dandys der neunziger Jahre. Und dieser weiße Schal ist nicht aus Seide, sondern aus warmer Wolle und mit Fransen.

Wie legt man auf der Jagd seine Schlingen aus? Die Hauptsache ist, daß die Beute nicht merkt, daß sie gejagt wird, sondern sich selbst in dem Glauben wiegt, der Jäger zu sein. Das stellt man am besten folgendermaßen an: Zuerst einmal rückt man so eng an sein Opfer heran, daß man ihm praktisch auf dem Schoß sitzt, wie etwa auf einem überfüllten Volksfest. Also hocke ich mich auf den Rand der Bank und wende mich dreiviertel der Beute zu (wir wollen doch präzise in unseren Aussagen sein!). Ich nehme zwei Plätze ein, und kein anderer kann mir die Beute abspenstig machen. Sein Blick zwingt mich zu ausschließlich keuschen und reinen Gedanken, und ich blättere demonstrativ in meiner Frauenzeitschrift. Alles ist mir gewogen: die Zeichen, der Artikel in der Illustrierten über Massage und die Hin- und Herbewegungen des Zuges. Meine Knie klopfen wie zufällig gegen meinen Mitreisenden, klopf-klopf, sorry, bitte, naives Ferkelchen, laß das arme erfrorene Lämmchen herein zum Aufwärmen! (Hoffentlich sieht er meinen Wolfspelz und die gierigen Zähnchen nicht, aber das ist alles nur eine Frage von Methodik und Erfahrung.) Vorwärts, du Hungrige nach einem warmen Menschen!

Der rothaarige Mitreisende kommt nicht umhin, einen Blick auf meinen Artikel zu werfen. Man bringt uns Frauen bei, wie man Männer massiert, dazu das Foto von einem Mann, stark wie ein Ochse, potent wie ein Deckhengst und mit nacktem Hals, die Haare wie bei einer Geisha nach oben gesteckt und von zwei Pinseln festgehalten. Das Kinn des Mannes ist mit wellenartigen Massagelinien versehen.

O ihr Kundalinikräfte, steht mir bei!

Und meine Gebete werden erhört: Aus irgendeinem unerklärlichen Grund bleibt der Zug am Stadtrand von Riga irgendwo zwischen šķirotava und Gaisma auf offener Strecke stehen, das Licht im Waggon geht aus, und es wird dunkel. Ich wage meinen ersten Probewurf und tue so, als hätte ich Angst vor Dunkelheit und müsse meine Furcht in den Griff bekommen.

Keine Reaktion.

Also auf zur zweiten Runde, Madame! sagt mir mein erfahrener Jägerinneninstinkt, und ich überlasse mich der Macht der Improvisation. Ich brumme ärgerlich: „Also so was Blödes, da lese ich gerade einen hochinteressanten Artikel, und ausgerechnet jetzt geht das Licht aus!“

„Worum ging es denn da?“

„Ach, na ja… Wofür soll sich eine alleinstehende Frau schon interessieren? Halt um Männer, ihre … äh … Natur, ja, ihre Sensibilität, ihren Verstand und ihre – Sexualität.“

„Ja, und?“

Typisch! Männer spielen gerne die dummen, lebhaften Mustangs, die frei über die Prärie sprengen und glauben, daß niemand sie einfangen kann. Aber dieser hier geht mir aus irgendeinem mir unerklärlichen Grund in die Falle. Er greift das von mir vorgegebene Thema auf – und sagt auch noch selbst ein paar interessante Dinge über Männer, so daß ich ganz aus dem Konzept komme. Moment mal, wer jagt hier eigentlich wen? Und dann stimmt er auch noch der Aussage zu, daß alle Männer Schweine, herumstromernde Märzkater oder geile Böcke sind. Das kommt wie von selbst aus ihm heraus, fast so, als mache er Spaß – und er hat mich damit meiner Waffen beraubt!

Sonst ist es natürlich immer so, daß die Männer am liebsten widersprechen und das Gegenteil beweisen wollen, weißt du, nicht alle sind Schweine, es gibt auch ein paar anständige Exemplare, und dann … Dann bleibt einem am Ende nichts anderes übrig, als zu überlegen, inwieweit man ihren Standpunkt übernimmt. Den richtigen Standpunkt.

Das Interesse des Rothaarigen an Männermassage ist groß. Werden wirklich nur der Hals und der Nacken massiert? Warum nicht auch das Decolleté? Und warum wird nur die Haut massiert, nicht aber auch das Herz? Sie verstehen schon, was ich sagen will – man verpaßt dem Herz ja nicht nur eine Massage nach einem Infarkt, sondern massiert auch die Gefühle, allein durch die bloße Anwesenheit. Warum ist es schmeichelhaft, einen Mann als Weiberheld oder Schürzenjäger zu bezeichnen, während man einer Frau Komplimente macht? Warum ist es üblich, Männer zu marsähnlichen Kämpfern zu stilisieren, während dieselben Männer den Frauen zunächst ihren Körper, ihren Verstand und ihre Gefühle rauben, um ihnen anschließend poetische Titel zu verleihen und sie als verehrungswürdige Geschöpfe zu bezeichnen? Kann ein Mann nicht auch einen Körper und eine Seele haben, die nur nach der Gegenwart eines anderen verlangen, ja, ja, die Hand von jemandem halten, und gut? Anstatt sich im Bett als leidenschaftlicher, feuriger, höllisch guter Stecher beweisen zu müssen?

Den letzten Satz sagt er gar nicht richtig zu mir. Auch nicht zu sich, sondern wie eine Zusammenfassung.

Meine Waffen, mit denen ich den Mann stellen wollte, haben versagt und liegen längst irgendwo kurz vor Riga nutzlos am Bahndamm. Es gibt keine Taktik gegen die, die in einem dunklen Waggon ihr Gewissen erleichtern oder ihr Herz ausschütten. Man braucht keine Speere zur Einnahme der Festung, wenn das Opfer freiwillig seine Rüstung ablegt und sich die Freiheit nimmt, direkt und ehrlich zu sein. Gerade vor denen hat man normalerweise am meisten Angst, wünscht sie zum Teufel oder bezeichnet sie als verrückt. Und warum? Weil sie alles zugegeben haben!

Ich habe Angst davor, den vor mir liegenden Berg zu überwinden. Ich will jemanden haben, der bei mir sitzt. Er soll mir die Hand halten wie einem Kind. Er muß gar nichts sagen. Man kann vielleicht zusammen schweigen, denn die Alten, denen man auf dem Weg zum Kampf gegen den Drachen begegnet, haben für den braven Toren zwar gute Ratschläge parat, aber trotzdem muß er allein in den Kampf ziehen, um die Prinzessin zu retten, und die Greise haben ihm nur schöne Worte mit auf den Weg gegeben. Solche nichtssagenden, aber sehr strapazierfähigen, so von der Art „wird schon alles gut, alles wird gut …“

Ich ergreife die feuchte Handfläche des anderen braven Toren. „Weißt du, ich fahre morgen nach Irland. Zum Arbeiten. Ein ganzes Jahr lang soll ich dort Pilze pflücken“, flüstere ich.

„Ich fahre auch weg“, flüstert er zurück. „Nach Spanien. Zur Olivenernte.“

„Ich habe Angst davor, daß ich mich im Flughafen verlaufe. Daß ich nicht weiß, wo ich hinmuß, daß ich ins falsche Flugzeug steige, mich auf den falschen Platz setze und keine Ahnung habe, was aus mir werden soll, wenn mich keiner abholt. Ich habe wirklich Angst davor, daß DORT niemand meine Hand hält. Schau nicht so ungläubig! Nur weil ich groß und füllig bin, heißt das noch lange nicht, daß ich Mumm in den Knochen habe. Ich zittere und habe Angst. Ich bewundere die, die sagen, daß sie sich überall, wo sie hinfahren, am liebsten von der Gruppe absondern und auf eigene Faust losziehen. Ich brauche Gurte wie ein Bergsteiger, ein Seil mit Griffen wie eine Kindergartengruppe, die eine Erzieherin im Gänsemarsch durch die Stadt laufen läßt.“

„Und ich“, flüstert er zurück, „ich habe Angst davor, daß man uns irgendwo in Polen auf der Landstraße ausraubt. Ich kriege Bauchweh von der Vorstellung, daß ich irgendwelche Halsabschneider von litauischen oder russischen Werbern bezahlen muß, ohne daß man mir gleichzeitig einen Job garantiert. Ich habe Angst, ja wirklich, es kann alles schiefgehen. Vielleicht läßt man uns in irgendwelchen nicht einmal in der Bibel erwähnten Olivenhainen schuften, irgendwo in Gallia Transalpina, wo man sich einen Dreck um Recht und Gesetz schert und alles mit scharfen Dolchen oder starken Muskeln regelt. Ich mag gar nicht daran denken, daß ich womöglich in einer verlausten Baracke hausen muß, eine eiserne Klappliege zum Schlafen bekomme und mich von preisreduziertem Weißbrot und dreckigem Wasser ernähren werde. Mich überkommt die nackte Panik, wenn ich mir vorstelle, daß ich ausgeraubt, abgearbeitet und bettelarm zurückkomme.“

Wir sitzen nebeneinander und reden uns im Dunkel des Waggons unsere Ängste von den Seelen.

Wir erzählen einander, was wir uns wünschen.
Und erwecken dadurch unsere Phantasie zum Leben.

Während wir tuscheln und uns bei der Hand halten, überkommt mich das Gefühl, daß wir alles schon haben – einen anständigen Chef, gute Arbeit in einem netten lettischen Team in der Wärme und ohne Zugluft. Ein Dach über dem Kopf und eine Höhle, in die man sich sicher und geborgen nach der Arbeit verkriechen kann, viel sauer verdientes Geld und ein kleines bißchen Glück. Und wenn sich dann auch noch ein Ire so in mich verliebt, daß er mich vom Fleck weg heiratet, was dann? Hier werde ich als zu dick und zu füllig ausgesondert, und so sehr ich mich auch anstrenge, ich passe niemals in das von Mode und Meinung der Gesellschaft bereitete Prokrustesbett mit den Maßen 90-60-90. Es sind nicht gerade die Zeiten von Rubens, seufze ich traurig, dann könnte ich alles essen, worauf ich Lust habe.

Seine Ohren zucken verdächtig, wahrscheinlich muß er schon ein Lächeln unterdrücken. Wie alle, denen es gelungen ist, eine Frau zur Offenheit zu provozieren. Männer beginnen rasch zu scheuen, wenn man ihnen die Halfter anlegen will, auch wenn dies ohne Hintergedanken passiert.

„Willst du etwas zu essen?“ fragt er. „Ich hab hier was!“

Er wendet sich seiner Tasche zu und holt zwei Äpfel hervor, die sofort den ganzen Waggon mit ihrem Duft erfüllen. Ich will mich zu meiner Tasche bücken, um mich mit den warmen fettigen Beljaschi zu revanchieren, die ich auf dem Bahnhofsplatz als Reiseproviant gekauft habe, aber auf einmal überkommt mich die Scham.

Äpfel sind nicht nur kalorienarm, von Legenden aus dem Leben im Paradies umwoben und nach dem Geschmack der Umweltschützer, sondern sie sind auch verheißungsvoll, wie aus des Nachbars Garten gestohlene Früchte.

„Nimm, wir essen ja nicht nur wegen der Nährwerte, sondern auch, weil Essen Leib und Seele zusammenhält. Du bist, was du ißt. Und weder bin ich Adam, noch bist du Eva“, sagt er.

Das Licht geht wieder an. Der Zug setzt sich in Bewegung und stampft wie besessen hinaus in die Nacht.

Wir kauen die süßen Äpfel, und nicht nur mir wird klar, daß alle Wünsche wahrscheinlich schon in Erfüllung gegangen sind. Mehr kann nicht passieren.

„Hab keine Angst! Alles wird gut …“, stimmt Elločka später in meine Melodie ein, und weil sie traurige Abschiedsszenen nicht ausstehen kann, gibt sie mir einen leichten Rippenstoß und sagt mir Worte, die Aivars Neibarts, genannt Nurbulis, Der Poet, ihr einziger Freund, vor langer Zeit einmal gesagt hat:

„Ich kann keine Leute leiden,
deren Leben nur wie eine glatte Chaussee ist,
über die sie ohne Unfälle
langsam zum Friedhof fahren.
Sie haben Angst, Angst, Angst,
Angst vor den nicht ausgetretenen Pfaden …“

Champignonsalat „Schlaraffenland“

Man gebe ein Glas eingelegte kleine Champignons in eine Schüssel. Einen Apfel, eine gelbe Paprikaschote und ein wenig holländischen Käse in kleine Würfel schneiden und ein Dutzend schwarze Oliven hinzugeben. Die orangefarbene Schale einer Apfelsine abreiben, die Frucht schälen, in Schnitze teilen und diese in Stücke schneiden. Alles mit Soße vermischen = ein halber Teelöffel Honig + fünf Eßlöffel Kefir + ein bißchen Senf + zwei Eßlöffel frisch gepreßter Zitronensaft. Wenn alles gut vermischt ist, drapiere man es auf Salatblätter, die man zuvor in eine Glasschüssel gelegt hat, und lobe beim Essen die Deutschen, die dem Schlaraffenland seinen wahren Namen gegeben haben: das Land, in dem einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen!

Laima Muktupāvelas „Champignonvermächtnis“ ist der erste der im vorigen Beitrag erwähnten Romane über Letten als Gastarbeiter auf den Britischen Inseln. Ihre Heldin begibt sich nach Irland, um sich in den Champignonplantagen als Pflückerin zu verdingen.

„Iva, eine Frau in den Dreißigern, beschreibt sich selbst als nicht besonders attraktiv oder klug, ist unverheiratet, kinderlos, ohne Anhang. Aber sie ist stolz darauf, dem Leben die Stirn und falschen Ratgebern Paroli bieten zu können, stolz auf ihre bewährten Verführungskünste, mit denen sie mißliche Situationen meistert, und stolz auf ihre Raffinesse, mit der sie sich dem Mobbing ihrer Landsleute wie den Erniedrigungen durch die Champignonbosse widersetzt. Die Zeit in Irland wird hart, aber die Akkordarbeit läßt den Kopf frei. Und Iva nutzt die Gelegenheit, die Umgebung zu studieren und zu deuten ihre Gedanken aber münden in skurrile Champignonrezepte.“ (aus der Verlagsinformation )

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