Probezeit (Fortsetzung)

Zum Klappentext

Gundars Ignats: Pārbaudes laiks (Probezeit).
Rīga: Dienas Grāmata, 2013

Fragment des Romans übersetzt von Andreas Jäkel

 Fortsetzung (zum ersten Fragment)
Am Samstagmorgen war der Parkplatz vor dem Supermarkt noch ziemlich leer, die ausgehungerten und einkaufswütigen Leute waren noch nicht von zu Hause aufgebrochen, etwas später – in ein paar Stunden – würde es problematisch, einen freien Platz zu finden. Sie bemühten sich, so früh wie möglich zum Supermarkt zu fahren. Kurz vor zehn öffneten sich die Schiebetüren, sie glitten vorbei an trägen Verkäuferinnen, die sich auf Käufer wartend langweilten. Geschminkte Mädchen, hübsche Madames und gleichgültige Damen ließen mit oberflächlichem Blick die Waren passieren und plapperten zwischen Regalen und Sonderangeboten, zwischen saisonalen Neuheiten und Gratisgeschenken.
Vor dem Supermarkt glitt die Zwanzig-Santīms-Münze wie das letzte Puzzlestück in die für sie vorgesehene Stelle, die Kette, die die Einkaufswagen miteinander verband, löste sich und vor ihnen öffneten sich die Eisentore des Einkaufsparadises.
»Schau mal, was für eine tolle Farbe.« Ilvija hatte die hellroten Küchenhandtücher entdeckt. Sie ging zum Regal und klappte eines auf. »Schön, nicht?«

»Ja, wirklich«, sagte Ingars und befühlte das Material, »davon nehmen wir zwei.« Die Handtücher mit den blauen Streifen, die noch aus den Zeiten im Wohnheim stammten, bekam man nicht sauber, die Flecken hatten sich auf ewig in sie hineingefressen.
Bei den Küchenhandtüchern waren auch die Pfannen, Töpfe, Teller, Schüsseln, die Kaffeekannen und das Besteck. In ihrem fragmentarischen Hausrat hielten Splitter verschiedenster Stile Einzug: ein Besteckset für sechs Personen oder wegen einer Rabattaktion in einem Anflug von Unvernunft angeschaffte nichtpaarweise Gewürzdöschen. Die Kollektionen in den Supermarktregalen waren einheitlich: eine Geschirrserie von spielerischer Leichtigkeit mit leuchtendroten Blüten, dann eine weiße Serie von dezenter Form und stilvolles, exklusives Geschirr. Einen Moment betrachteten sie das und dachten dabei ein und dasselbe.
»Gehen wir«, sagte Ingars.
Langsam und widerwillig rollte der Einkaufswagen über den frisch geputzten Boden. Samstage waren Kochtage. Die Zutaten standen auf dem Tisch, Ilvija am Herd und gab kurze Anweisungen. Ingars ergab sich der Begeisterung seiner Freundin für die Kochkunst und tat, was man ihm anvertraute: er rupfte den Salat, schnitt und hackte das Fleisch, schälte und rieb.
Ilvija dachte an ihre Kindheit zurück und erzählte davon, wie besessen Mutter von Eintöpfen gewesen war: »Mein Gott, sie hat immer etwas gefunden, woraus sie einen Eintopf machen konnte, das war irre, egal, was – Karotten, Bohnen, Kartoffeln, Kohl. Wahrscheinlich versuchte sie, mich zu mästen, bis ich aussähe wie ein kleiner Pfannkuchen.«
»Jetzt bist du ja auch ein kleiner Pfannkuchen«, kicherte Ingars.
»Nicht, dass es mir nicht geschmeckt hätte, aber ich konnte keine Eintöpfe mehr sehen. Immer das Gleiche, mit so einem Fleisch und mit einem anderen, mit Hackfleisch und ganz ohne Fleisch. Wenn ich während des Studiums zu ihr fuhr, fragte sie mich manchmal, was sie kochen sollte und ich wollte Frikadellen, aber viel öfter sagte sie nur ›Ist gut, wir warten auf dich, ich habe den und den Eintopf gemacht‹ und fragte gar nichts.«
Ilvija lachte, sie kochte niemals Eintöpfe.
Ingars erinnerte sich an keinen Geschmack, er erinnerte sich an den Geruch von Pfannkuchen, der sonntagmorgens aus der Küche strömte und ihn weckte. Mutter hatte Pfannkuchen gemacht, er kuschelte sich mit einem Teller Pfannkuchen und Kirschmarmelade in den Sessel und sah sich Märchenfilme an. Im Hof des zweistöckigen Holzhauses zwitscherten die Schnapsdrosseln, die in dem kleinen Städtchen beheimatet waren und deren gelegentliches Grölen ihn kurzzeitig daran hinderte, die Heldentaten von Sprīdītis zu verfolgen.
Ingars schob den Wagen in Richtung Fleischtheke, wo dunkelrote und faserige Stücke Rinderfilet auf Käufer warteten, er schob sich zur Milch und zur Sahne und weiter zum Obst und zum Gemüse. Er fuhr einen Bogen um die an den Regalen klebenden Einkaufsgänger und jedes Mal, wenn Ilvija von der vorgesehenen Route abgewichen war, zeichnete er in Gedanken den Weg neu nach. Die Routenplanung war für ihn wie Unterhaltung im Supermarkt; wenn er allein kam, brachte er es fertig, in zwanzig Minuten alles Nötige zu finden, aber wenn sie zu zweit waren, gab er sich der Versuchung der Unvorhersehbarkeit des Einkaufens hin und kaufte zusätzlich zu den Dingen auf dem Einkaufszettel stets spontan etwas, ob es eine Mango und Chilisauce, Kokosmilch oder Meeresalgenblätter waren.
Die kleinen Freuden brachten Farbe ins Leben, nach ihren Einkaufstouren kochten sie sehr oft etwas anderes, als sie ursprünglich vorgehabt hatten, auf diese Weise gab es mal anstelle des Hühnchens in Süßsauersauce Garnelen in Weißweinsauce oder anstelle der Leberpfannkuchen Leberpastete, die nicht ordentlich gelang, weshalb die Hälfte der klebrigen Masse in die Abfallurne wanderte. Diesmal hielten sie sich an den Plan, zumindest an den Frühstücksplan, obwohl sie auch geradezu unabsichtlich ein paar Tiefkühlpizzen und ein paar Packungen Meeresfrüchte mitnahmen. Und dann noch die Handtücher, die Wäscheklammern, die Handtuchhalter und die Bambusuntersetzer für die Teller. Ein paar Flaschen Rotwein wurden zuallererst nach dem Preis ausgesucht und dann nach dem Etikett. Ilvija mochte Weinflaschen mit Namen in altertümlichem Schriftzug und mit Bildern von Schlössern, die gaben sich als echte französische Weine aus und dieser Illusion gab sie sich gerne hin. Hatte Ingars sich davon überzeugt, dass es ein trockener Wein war, willigte er in die Wahl ein.
Unter Kraftanstrengung wuchtete Ilvija den Inhalt des bis zur Hälfte vollge-frachteten Wagens schwungvoll auf das schwarze Fließband.
Die dunkelhaarige Kassiererin in ihrem korporativen Jäckchen, das eine Nummer zu groß war, grüßte die beiden, ohne sie anzusehen mit einem »Guten Tag«. Sie hieß Ilvija, das stand auf dem Namensschildchen an ihrer Jacke.
Ingars antwortete ihr laut hörbar: »Guten Tag, Ilvija.« Seine Freundin zuckte zusammen.
»Was?«
Ingars grinste angesichts des seiner Meinung nach lustigen Witzes.
»Alles in Ordnung«, sagte er und die Verkäuferin sah verdutzt auf. Ingars zog das Portmonnaie hervor und nahm die Bankkarte heraus – bei der Aussicht, bezahlen zu dürfen, wurde ihm warm ums Herz. Obwohl sie sich alle Ausgaben genau teilten, bemühte sich Ingars, derjenige zu sein, der bezahlte. Ein warmes, behagliches Gefühl umgab ihn, wenn er die Karte in den Apparat einführte, nach dem Piepton den Pincode eingab und dem Rattern lauschen durfte, wenn der Bon gedruckt wurde.
Ingars schleppte die schweren Tüten, fünfzig Lats, die zu Lebensmitteln und kleinen Haushaltsartikeln geworden waren, in Waren hatten sich die verkauften Stunden ihres Lebens verwandelt. Und da liefen sie auf dem polierten Supermarktglanz entlang: Ilvija in einem Vierzig-Stunden-Mantel und in Fünfzehn-Stunden-Hosen, Ingars in den kürzlich gekauften Sechs-Stunden-Laufschuhen. Zu ihrer Seite verwandelten sich im Schönheitssalon vier Stunden einer rothaarigen Dame in hübsche Ondulationen und zu den Füßen der Madonna der Stadt zerschmetterte ein kleiner Junge – Locken wie ein junges Lämmchen – einen Zwei-Stunden-Roboter.
»Pass auf, es ist glatt hier.« Ilvija klammerte sich an Ingars’ Ellenbogen, die dünne Eisschicht der letzten Nacht taute und funkelte wie ein polierter Spiegel.

»Das ist bestimmt Evelīna«, rief Ilvija nervös, als das Telefon vibrierte. Ingars stach mit einer Messerspitze den Kartoffeln ihre undankbaren Augen aus, die Küche duftete nach gebratenem Fleisch und Thymian.
»Was? Das Auto, weiß nicht, ich frag mal.« Ilvija bedeckte mit der Handflä-che den Hörer. »Wo können sie das Auto abstellen?«
»Hm…«, Ingars dachte nach. »Sollen auf den Hof fahren.«
Ilvija gab die Instruktionen weiter: »Fahrt von der Seitenstraße aus auf den Hof. … Was? Dort ist ein Tor?«
Der Parkplatz war von der Straße nur über ein Automatiktor zugänglich und den Schlüssel dazu hatten Ingars und Ilvija nicht.
»Weiter vorne in der Kalnciema-Straße, bei dem Laden, ist ein Parkplatz, vielleicht könnt ihr es dort lassen.« Ilvija dirigierte den Besuch, der erfolglos einen Platz für das Auto suchend im Kreis um den Block fuhr und erst nach geraumer Zeit, als im Topf schon die Kartoffeln kochten, war an der Tür ein kurzes Klopfen zu hören.
»Hallo, meine Liebe!« Evelīna begrüßte Ilvija mit einer festen Umarmung. Hinter ihr Andris, rund und ein breites Grinsen auf dem Gesicht, wie ein wohlgenährter kleiner Junge. Die dicke Schicht eines guten Lebens hatte begonnen, sich über seinen trainierten Körper zu legen. Andris reichte dem Gastgeber ein Beutelchen mit Mitbringseln.
»Ach, das wär doch nicht nötig gewesen.« Ilvija sah in den Beutel, der einen Martini Asti, eine Schachtel Käsekuchen und ein Schneidebrettchen für Fleisch mit einer darauf eingravierten kleinen Robbe vom kleinen Markt in der Kalnciema-Straße enthielt.
»Ach, wie süß!« Ilvija strich mit ihrem Finger über das niedliche Tier. »Danke, vielen Dank, kommt rein, setzt euch doch!« Wie es sich für eine Gastgeberin gehörte, geleitete sie die Gäste hinein.
Evelīna half, die Teller auf dem Tisch zu platzieren, während Andris, der sich auf das Sofa fallen gelassen und den Arm über die Lehne geworfen hatte, sich mit prüfendem Blick in der Behausung umsah.
»Ordentlich, ordentlich«, wiederholte er mehr für sich als für die Ohren anderer. »Wie viel Quadratmeter habt ihr hier? So vierzig?«
»Fünfundvierzig«, antwortete Ingars und betrachtete Andris’ interessierte Miene.
»Ist normal, für zwei reicht das völlig, und Dusche und WC?«
»Da drüben.« Ingars wies mit dem Arm in die Richtung und merkte, dass er sich Andris’ vorgegaukelter Verhaltensmanier angepasst hatte, der in lässiger Pose dasaß und scheinbar unbeteiligt redete.
»Doch, doch, wirklich gut«, kommentierte Andris ununterbrochen, als ob Ingars eine Beurteilung von ihm erwartet hätte.
»Hübsche Wohnung, nicht?«, raunte Evelīna, die mit Ilvija den Tisch gedeckt hatte.
»Das ist kein Neubau, oder?«, fragte Evelīna.
»Nein, saniert.«
»Ein schönes Haus«, führte Evelīna fort. »Ich habe es schon kurz gesehen und Andris gesagt, wie toll das wäre, wenn das ihr Haus wäre und das ist es auch, hihi.« Evelīna lachte und klatschte mit kindlicher Freude in die Hände. Dann schwärmte sie mit Andris einstimmig, so wie die Eltern das Auto bestaunen, das sie ihrem lieben Kleinen geschenkt haben, das ihm aber nicht so recht gefallen möchte.
Ilvija stimmte in das Ruhmeslied mit ein: »Mir gefällt, dass es hier leise ist.«
»Hört man keine Autos? Die Straße ist doch gleich am Haus.«
»Nein«, Ilvija blühte vor Entzücken auf, »wirklich nicht, wir haben neue Fenster.«
»Gemütlich«, sagte Evelīna und bevor sie sich ans Essen machten, stellte sich ein kurzer Moment angespannter Stille ein. Die Begutachtung der Wohnung hatte den Verwirrungen des Kennenlernens geglückt Abhilfe geschaffen, doch nach der begeisterungsvollen Einleitung war das Thema ausgeschöpft. Auf den Tellern lagen Rindfleischstreifen mit Salat und heiß dampfenden Kartoffeln, die Gläser waren mit einem alkoholfreien Pfefferminz-Zitronen-Getränk gefüllt. Die Gäste fassten ans Essen.
»Und wie steht’s mit eurer Wohnung?«, fragte Ilvija.
»Ach, fang nicht damit an.« Evelīna winkte ab. »Ich glaube, damit werden wir bis in alle Ewigkeit nicht fertig.«
»Könnt ihr euch nicht entscheiden?«, fragte Ingars.
Ingars’ Frage erzeugte eine unangenehme Pause. Evelīna sah zuerst Ilvija an, dann Andris.
»Wir haben keine Zeit, wir brauchen wahnsinnig viel Zeit, all diese Kleinig-keiten«, warf Andris ein.
»Ich habe ihm schon gesagt, dass ich es lange in diesem Staub nicht aushalte.«
»Ja, ja, ich weiß.« Andris seufzte, zwei Streifen Rindfleisch in Honigsauce verschwanden in seinem Mund.
»Seid ihr am Renovieren?«, fragte Ingars jetzt, kurz kehrte Stille ein, Evelīna sah wieder ihre Cousine fragend an.
»Geschlossener Rohbau.« Andris vertrieb den Moment kurzer Irritation, den Evelīnas Verwundern über Ingars’ Unkenntnis hervorgerufen hatte. »Alle Innenarbei-ten. Mit der Küche und dem einen Zimmer ist alles soweit in Ordnung.«
»Ja«, gab Evelīna zu wissen, »jetzt ist nur noch der Staub, da wohnen wir halb in der neuen Wohnung, samstags und sonntags, und unter der Woche in der engen Wohnung in der Stadt.«
»So eng ist sie ja gar nicht«, meldete sich Andris zu Wort. Evelīnas Anmerkung hatte an seinem Selbstwertgefühl gekratzt und die Frau, als sie sich ihrer Schuld bewusst wurde, streichelte Andris versöhnlich seinen massiven Bizeps.
»Wie viele Zimmer habt ihr?«, fragte Ingars.
»Zwei, Wohnungsbauserie 467«, erklärte Andris sachkundlich.
»Ich meine, im neuen Haus.«
»Drei. Zwei einzelne – Schlafzimmer und Kinderzimmer – und dann noch eins im Studiostyle mit integrierter Küche plus dem Balkonausgang.«
»Ein Balkon«, lächelte Ilvija verträumt.
»Ich habe Andris gesagt, wenn wir fertig sind, machst du mir ein Frühstück auf dem Balkon.«
»Wie herrlich!«
»Nicht? Nach Osten hin, genau in der Morgensonne.« Evelīna neigte den Kopf zur Seite und schielte zu Andris hinüber.
Andris machte die romantische Idylle neoromantischer Konkretheit zunichte: »Keine Zeit. Den Schwarzarbeitern kannst du nicht vertrauen und arbeiten will ja niemand. Ein normaler Handwerker schreibt auch gleich die normale Summe auf. Was ich selbst an den Samstagen und Sonntagen schaffe, das ist ja zu wenig.«
»Andris hat bald ein neues Projekt, deshalb müssen wir jetzt so viel schaffen, wie wir können.«
»Na, da kannst du noch nicht wissen, was draus wird, ich hoffe, dass ich bald eins habe.«
Ingars schaltete sich in das Gespräch ein: »Du machst Projekte?«
»Ja, ein paar Dinger, nichts Großes, Hauptsache, ich habe plus minus einen stabilen Geldfluss, und dann kann man ja weiterschauen, ob’s was gibt, ob nicht, ich reiß mir kein Bein aus.« Andris hatte als erster seinen Teller leergegessen und nahm sich Nachschub. »Es gibt Schwarzarbeiter, die überhaupt ein wahnsinniges Risiko eingehen, sowas mach ich nich, ich hab ein stabiles Projekt mit Cēsis.«
»Mit Cēsis?«, unterbrach Ilvija ihn.
»Ja, wir helfen dort ein bißchen aus.«
»Ingars ist auch aus Cēsis.«
»Wirklich?« Andris war interessiert. »Vielleicht kennst du den, Grabovskis heißt der, Vitālijs, schwer in Ordnung der Kerl.«
»Nein, nein, hab ich noch nie gehört.«
»Der ist in Cēsis zur Schule gegangen, in das Gymnasium dort, du kennst ihn wirklich nicht? Dem hat Mobile B gehört.«
»Was? Mobile?«
»Reparatur und Verkauf, in der Rigaer Straße. Ja, da, da ist so ein Backsteinhaus und da drin, da war eben so ein kleiner Salon«, fing Andris zu erklären an, war er doch von Grabovskis genauso besessen wie von seiner neuen Wohnung.
»Vielleicht, wenn ich ihn sehen würde, würde ich ihn am Gesicht erkennen, aber vom Namen her, nein.« Ingars konnte Andris nicht erfreuen.
»Also das war so, er macht da sein Ding und hat mich eingeladen, die haben nicht genügend Kapazitäten, werden sehen, was draus wird, eine Stelle gibt’s dort, wenn’s klappt, dann gut.«
Ingars kaute stillschweigend auf seinem Fleisch. Das Rind war zäh gebraten, auch mit der Honigsauce wurde es nicht zarter.
»Aber so bin ich jetzt in Riga«, fuhr Andris fort. »Vielleicht einmal in der Woche nach Cēsis, vielleicht manchmal ein wenig öfter.«
»Lecker, wirklich lecker.« Evelīna hatte den Mangel an Interesse an den Geschäftserfolgen ihres Mannes bemerkt und wandte sich Ilvija zu: »Hast du das selbst mariniert?«
»Mariniert? Nein, da ist überhaupt keine Marinade dran, ein bißchen Salz, Pfeffer, Thymian, das wars.«
»Nein, im Ernst? Total lecker, saftig.«
»Weil es schnell gebraten ist. Du musst es in einer heißen Pfanne erst von der einen Seite bräunen, dann von der anderen und fertig.«
»Phantastisch!«
»Gewöhnlich brät man das Fleisch zu lange, fast immer, wirklich.«
»Mhm.«
»Das mache ich auch, wenn wir eine Küche haben.« Evelīna sah sich in träumerischen Gedanken schon am Herd. »Ich habe schon so eine kleine Rezeptkladde, immer wenn ich etwas Interessantes finde, klebe ich es rein.«
»Wenn es irgendwann einmal noch dazu kommt«, ließ Andris die Phantasieschlösser seiner geliebten Freundin einstürzen.
»Bald«, sagte Evelīna bestimmt und voller Überzeugung.
»Ich habe da meine Zweifel, wir haben noch nicht einmal die Farbe ausgesucht.«
»Die weiß ich schon, senffarben mit …«
»Och nein.« Andris wurde ärgerlich, von den Senffarbendiskussionen hatte er offenbar entschieden genug.
»Doch, mit einer Tischplatte aus Nussbaumholz und Automatikschubladen. Und MDF, kein Laminat.« Auf Evelīnas Gesicht strahlte ein Siegerinnenlächeln, Andris seufzte und winkte ab. Der vom Rindfleisch in Honigsauce gestillte Hunger legte die Meinungsverschiedenheiten bei.
»Ich helfe dir.« Evelīna hatte Ilvijas Geschäftigkeit bemerkt und erhob sich.
»Danke, ich mach das schon, das ist ja nicht viel«, sagte Ilvija, doch Evelīnas Fleiß verringerte das nicht, sie nahm das leere Geschirr und folgte der Cousine in die Küche.
Jetzt, wo sie allein waren, wandte sich Andris Ingars zu: »Evelīna hat gesagt, dass du einen Job gefunden hast.«
»Ja, stimmt.« Ingars wich unwillig aus, an einem Samstag war er nicht geneigt, an die Arbeit zu denken, trotzdem konfrontierte Andris’ Frage ihn mit dem Arbeitsalltag und die Kombination 2B, 3B, 4A, 16 stahl sich wie ein geheimer Code in sein Bewusstsein.
Interessiert neigte Andris sich zu Ingars hinüber: »Was machst du?«
»Im Ministerium? Ich hab im September angefangen, ich hab noch nicht so richtig verstanden, was ich mache und wie.«
»Aha, ja«, nickte Andris zustimmend, »womit hast du zu tun? Mit Jura und so?«
»Nein, nein, ich bin kein Jurist. Ich hab zusamen mit Ilvija und Evelīna studiert.«
Andris versuchte, es zu erraten: »Buchhaltung?«
»Nein, Aufsicht und Kontrolle.«
»Dann bist du Bulle?« Andris lachte.
»Nicht ganz, alle möglichen Tabellen und so.«
»Naaachtisch!« Evelīnas melodiöser Ruf rüttelte die Jungs von ihren Tabellen auf, in den neuen Schälchen gab es Beerentiramisu mit Vanillecreme.
»Wunderbar«, wusste Andris die Leistung der Köchin zu schätzen und leerte das Schälchen mit ausladenden schnellen Bewegungen.
»Unsere eigenen Beeren, aus dem Garten von meinen Eltern«, rühmte Ilvija sich.
»Ja, wirklich«, Evelīna riss vor Erstaunen die Augen auf, »ich hab gerade gedacht, dass die so vollmundig schmecken, wie sonst nur echte.«
»Ich sage ja«, Ilvija fühlte sich von Herzen geschmeichelt, »ich hätte auch gerne einen Garten.«
»Ach, nein«, Evelīna rümpfte die Nase, »besser, jemand anders hat den Garten, ich mag mich da nicht abrackern.«
»Na gut, dann werden wir den Garten haben und ihr könnt zu uns kommen, wenn’s was gibt.« Die beiden Cousinen waren von Ilvijas Lösung völlig begeistert und gickerten sich an.
»Schampus? Kaffee?« Ingars war aufgefallen, dass er den Martini Asti vergessen hatte und sogleich besann er sich, ihn anzubieten.
»Den müsste man kaltlegen«, belehrte ihn Andris allwissend. »Wickel ihn in ein nasses Tuch ein und leg ihn ins Eisfach, dann kühlt er im Nu ab.«
Ingars hielt ein Küchenhandtuch unter den Hahn, ließ eine Ecke vollsaugen und legte die eingewickelte Flasche ins Eisfach. Er befüllte den elektrischen Flaschenkühler mit Wasser und schaltete ihn ein.
»Wie viele Löffel?«, fragte Ingars die ins Gespräch versunkenen Gäste. In dem Stimmengeplätscher und mit dem Wasserrauschen im Hintergrund blieb seine Frage wegen des Kaffees unvernommen. In vier Tassen, die so unterschiedlich waren wie Ilvijas Gemütszustände, gab er je zwei Teelöffel Kaffeepulver und lauschte dem Brodeln, das an Stärke gewann, und dem Klackern des Schalters am zitternden Kocher.
»Hast du mich gar nicht gehört?«, hörte er hinter sich Ilvijas Stimme.
»Was?«
»Ich hab dir gesagt, dass du die kleinen Tässchen nehmen und den Kaffee in die Glaskanne füllen sollst.«
»Okay, okay, entschuldige, ich hab es wirklich nicht gehört.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Ilvija ihn und umarmte ihn dabei.
»Ja, ja«, antwortete Ingars, während er das Pulver aus den Tassen in die gläserne Kaffeekanne umschüttete.
»Wirklich?« Ilvija sah ihren Freund an und langte dann nach den Tässchen.
»Wirklich«, antwortete Ingars mit einem Lächeln.
Ilvija wollte den Pulverberg auf dem Kannenboden schätzen: »Wie viele Löffel sind das?«
»Das könnten sieben gehäufte sein«, gab Ingars ihr ungefähr zur Antwort.
»Nimm noch einen«, entschied Ilvija und Ingars gehorchte.
Als das Kaffeearoma den Raum ausgefüllt hatte, wurde Andris unruhig, er hatte sein Stück Käsekuchen als erster verdrückt.
»Müssen wir schon fahren?« Evelīna verstand den Wink in seinem Zappeln. Enttäuschte Bekümmernis zog sich über ihr Gesicht, Ingars verstand, dass die beiden Cousinen gern noch Zeit zu zweit miteinander verbracht hätten, ohne die Gegenwart der Männer, die den innigen Gesprächen etwas Persönliches raubte und einen Teil der neugierigen Fragen ungestellt und unbeantwortet ließ. Als der Besuch schon aufgestanden war, um zu gehen, und ein letztes Mal von der schönen Behausung schwärmte, erinnerte sich Ingars wieder:
»Und was ist jetzt mit dem Sekt?«
»Hm, der bleibt für’s nächste Mal«, sagte Andris.
»Nächstes Mal besucht ihr uns.« Evelīna lächelte und gab ihrer Verwandten ein Abschiedsküsschen.

Ingars, der Held dieses Romans, scheint alles zu haben, was er sich wünschen könnte: Hochschulabschluss, Freundin, Eigentumswohnung, ein guter bezahlter Job im Ministerium. Doch schon während der ersten Arbeitstage merkt er, dass da etwas nicht so ist, wie er es gerne hätte.
„Probezeit“ erzählt von der Generation im heutigen Lettland, die Krieg, Okkupation und die Einschränkungen der Sowjetzeit nur aus den Geschichtsbüchern kennt, jungen Menschen, die in einem freien und unabhängigen Staat aufgewachsen sind und deren Selbständigkeit keine Grenzen gesetzt wurden. Doch es stellt sich heraus, dass die Freiheit auch von ihnen etwas fordert: Unternehmungslust, Entscheidungsfreude und Mut. Sind sie dem gewachsen?

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