Mütter und Töchter (3). Inga Gaile.

Die Zeit macht aus mir eine Esche am Rand der Allee, die Zeit macht aus mir diesen farbigen Himmel, unter dem ich über den Hof meinen Mannes, meines ermordeten Mannes, schreite, die Zeit verschwägert mich mit der Bienenkönigin, die Zeit verwandelt mich. Die Zeit heilt mich und deckt mich zu. All diese Zeilen gehen mir nicht aus dem Kopf, je weiter sich meine Bücher von mir räumlich entfernen, desto mehr kommen Zeilen aus Gedichten und Romane hervor, Sätze, die ich, bevor ich zwanzig war, in verschiedenen Altersstufen gelesen, gelernt und eingepaukt habe. Vale et me ama! Quod licet Iovi, non licet bovi! Auf Latein natürlich nur das Allerbanalste und dann noch alle Bezeichnungen vom Bau des menschlichen Körpers. Einige Wörter, die den Namen von Pflanzen oder von weiblichen Organen ähneln, sinus maritimus, coitus, agina. Sie verweben sich zu einem einheitlichen Gewirr. Einem einheitlichen Blumengewinde. Die Zeit verwandelt mich, doch ich werde bei dir sein wie ein vergessener Handschuh auf weißem Marmorgesims, wie der Wind, der in die Locken deiner Tochter einfällt, die Zeit verwandelt mich, doch ich werde bei dir sein.

Ich stehe an Martins Regalen, beide Türen geöffnet. Dicke Glasscheiben schützen die Bücher vor Staub und Sonne. Es ist schwierig, in den Regalen eins meiner Bücher zu finden. Irgendwo müssen Rilkes Sonette an Orpheus stehen, die mir meine Mutter geschickt hat. Das ist das einzige Geschenk, dass mir meine Mutter in den siebzehn Jahren, in denen ich sie nicht gesehen habe, gemacht hat. Vor siebzehn Jahren kam sie hier auf den Hof und verkündete, dass Karlis mit ihr gehen würde, dass sie überhaupt nicht verstünde, warum ich ihn zu mir holen musste, wo ich doch schon vier Jahre problemlos ohne meinen Sohn ausgekommen war. Es war Krieg, Mamma. Und ich war drei Jahre fort. Warst du denen dort etwa wichtiger als deinem Sohn? Ich konnte nicht, flüsterte ich auf Lettisch. Ich bin gekommen, als ich konnte. Nun gut, aber jetzt muss er auf eine Schule. Sie erhob sich und zog die Handschuhe wieder aus. Sie nahm sie in die andere Hand, schlug sich damit auf die Handfläche und fragte: wo ist er? Es war Juni, er war draußen, als er Johanna sah, fiel er ihr um den Hals, packte schnell seine Sachen zusammen und fuhr mit ihr weg. Mamma, das ist doch besser für mich. Natürlich, mein Sohn, sagte ich. Natürlich war es besser für ihn. Auch wenn ich gerade angefangen hatte zu glauben, dass wir so etwas wie eine Familie werden könnten. Die einzige Nachricht von Johanna kam vier Jahre später in Form dieses in roten Samt gebundenen Gedichtbandes.

Inga Gaile: Stikli. Rīga: Dienas Grāmata, 2016.
Ausschnitt, aus dem Lettischen von Nicole Nau

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