Kārlis Vērpe: Gefährliche Worte (in: Satori Nr. 1)
Ausschnitte in deutscher Übersetzung von Nicole Nau
Ein Denker der Antike hat einmal gesagt, die Liebe sei eine Flut. Am Anfang ist sie kaum zu spüren, unmerkbar steigt der Pegel, Vögel tirillieren, Forellen haschen nach summenden Käfern, ein warmer Wind streichelt die Haut, Schäfchenwolken gleiten über blauen Himmel. Plötzlich erfasst dich die Strömung und du verlierst den Boden unter den Füßen, und es ist zu spät, um an Land zu kriechen. Du krallst dich in den Zweigen eines gefallenen Baumes fest und wehrst dich, die Strömung reißt dir ein Stück Seele aus, lässt dich aber am Leben und gemahnt an das große Geschenk der Götter und deine unbehauene Überheblichkeit. Du kannst dich nur noch treiben lassen, ohne zu wissen, was wird: vielleicht zieht dich hinter der nächsten Biegung ein Strudel in die Tiefe, vielleicht wird die Strömung mit der Zeit zu einem ruhigen Fluß, auf dessen Grund greise Welse wohnen, an dessen Ufern malerische Eichenwäldchen stehen und dessen Arme weit in den Kontinent hineinreichen. Vielleicht aber versiegt die wilde Kraft auch in einem nebeligen Morast ohne Ende, Ränder und Garantien, dass die Fluten dich nicht noch einmal unvorbereitet erwischen. Die Liebe kommt immer überraschend. So der antike Denker.
Zu Beginn einer Liebe hast du keine Zeit zu sinnieren – brauch ich das oder nicht. Auch dann, wenn das Hochwasser sich schon längst wieder gesenkt hat und du, langsam auf dem Rücken mit der Strömung treibend, dich dem Sinnieren hingibst, ist es der Fluss, der dich davon abhält ans Ufer zu steigen. Eben aus diesem Grunde sehnen sich die Menschen so nach der Liebe und reden, schreiben und singen so unermüdlich von ihr. Sie überrascht dich nur in von den Göttern ausgewählten Momenten, und nur sie kennen die Gründe dafür. Ihre Wasser fordern deinen Mut heraus, denn du musst zu einem erstklassigen Schwimmer werden, wenn du dich nicht verschlucken oder ans Ufer zurückgespuckt werden willst. Wenn du es verstehst zu lieben, entdeckst du die Welt in ihrer wahren Schönheit. Vieles steht auf dem Spiel, und alles hängt von der leichtfertigen Laune der Götter ab und von deinem Entschluss. Ob du aber den richtigen Entschluss fasst, wissen einzig die Götter.
So beginnt ein – ja, was ist das eigentlich für ein Text? sagen wir: ein Essay – von Kārlis Vērpe im ersten Heft der Zeitschrift SATORI, das im November 2016 herausgekommen ist und unterschiedliche Texte lettischer Autorinnen und Autoren präsentiert, vorwiegend junger (unter Vierzig), die im Inhaltsverzeichnis nur lapidar in „Lyrik“ und „Nichtlyrik“ unterteilt werden. Das Thema des Heftes ist Pļūdi, was Fluten, Überflutung, Hochwasser und Überschwemmung heißt. Diesen Text habe ich am Weihnachtsmorgen gelesen, wo er prima hinpasste, und fand ihn irgendwie schön, auch wenn er in der Mitte ein wenig zu sehr mäandert. Erst geht es also um die Liebe, zunächst um die individuelle, dann aber schnell um die Menschenliebe.
Menschenliebe verlangt auf den ersten Blick weniger Entschlossenheit und Mut als die erotische Liebe, deren Gewalt eine Naturgewalt ist, der man sich nicht widersetzen kann. Die Menschenliebe ist hingegen das Ergebnis unaufhörlicher sorgfältiger Arbeit, daher ist sie noch schwerer zu realisieren. Ihr Ziel ist noch weniger zu greifen, besonders in dieser Zeit des Individualismus und der Selbstverwirklichung, in der wir leben. Die Logik ist auf den Kopf gestellt: während die Liebe, die der antike Denker beschreibt, verlangt, dass man selbständig schwimmen lernt, um nicht unterzugehen, verlangt die Menschenliebe zu lernen, wie man Ängste und Unbehagen in Mut umwandelt. Wie man sich die schnelle, kleine, schmutzige Freude verkneift, den anderen als Idioten, Hirni, Biedermann abzuschreiben. Es gibt unzählbar viele Möglichkeiten, den anderen nicht zu sehen. […] Wir haben viel mehr gemein, als wir glauben, wir müssten nur beginnen, einander besser zuzuhören, statt dass jeder von uns gewissenlos seine bequeme Phrasendreschmaschine anwirft und die Gegner als wertlosen Plunder abschreibt.
Es geht aber auch um Metaphern, vor allem die der Flut, und dass sie in ihrer scheinbaren Bequemlichkeit gefährlich sein können (und im Widerspruch zu Prinzipien der Menschenliebe stehen). Ja, spätestens in diesem, d.h. dem gerade vergangenen, Jahr hat sich auch in Lettland die unselige Metapher der Flüchtlingsflut verbreitet, und der Autor schreibt tapfer dagegen an. Und plädiert für einen kreativeren und verantwortungsvolleren Umgang mit der Sprache, mit den „gefährlichen Worten“, mit denen der Aufsatz überschrieben ist.
Zum Beispiel die erwähnte Liebe. Ist die Sichtweise des von mir erdachten antiken Denkers die einzig wahre? Macht nicht die Metapher der Flut die Liebe zu schwerfällig, den Liebenden aber zu gefügig? Schließlich ist Liebe auch eine Sache der Einstellung und der Kultur. Wenn zum Beispiel die Mosuo Sängerin Yang Erche Namu auf dem Hintergrund ihrer Kultur über die Liebe spricht, dann ist die Liebe wie die Jahreszeiten, die unaufhörlich kommen und gehen. Sie müssen zugeben, dass das eine viel verspieltere, ungezwungenere und irgendwie auch gesündere Sichtweise ist, in der die Liebende selbst mehr zu sagen hat als irgendwelche unbezähmbare Urgewalten, die es um jeden Preis zu verwirklichen gilt. Was hindert uns daran, das Beste aus dieser Auffassung zu lernen und in unsere Metaphorik zu integrieren? Namus Worte rufen uns die den christlichen Abendländern seit Nietzsche wohl bekannte Wahrheit in Erinnerung, dass Metaphern nicht rein sind, dass sie nicht nur Wahrheit enthalten, sondern einen häufig auch tief in den Morast ziehen.
Sprache ist, wie die Fluten, eine Kraft, die stärker ist als jeder einzelne von uns. Wir müssen Respekt vor ihr haben und lernen, in ihr zu schwimmen, uns ihr hinzugeben und sie gleichzeitig zu lenken, damit die Worte frei strömen und wir uns nicht hinhocken und Steine zu festen Dämmen zusammenscharren, sondern uns geschickt und bewusst wie Forellen durch die Strömung winden, die kommt und geht, steigt und versiegt und die malerischen Umrisse der Landschaften unserer Gespräche zeichnet.