Die Tochter des Henkers

[das Beitragsbild mit demselben Titel ist von Inga Meldere, gefunden hier]

Kārlis Skalbe (1879-1945)
Die Tochter des Henkers

Aus dem Lettischen übersetzt von Oskar Schönhoff (erschienen 1921)

Es war einst ein Henker und der hatte eine Tochter. Er tat, was alle Henker tun. Doch manchmal, wenn er den schweren Rausch ausgeschlafen, in dem er seine Tage verbrachte, nahm er sein Töchterchen auf den Schoß und ein Ton in seiner Kehle suchte nach Worten. Er war wie ein erstickender Kuckuck, der rufen möchte, und das war so schrecklich.
Das Mädchen wuchs heran. Es hatte rote Haare und alle konnten schon von weitem sehen, dass die Tochter des Henkers kam.

(Dieses Video habe ich auf YouTube gefunden, es fasst die Geschichte perfekt zusammen)

Sie wuchs einsam auf. Alle flohen vor ihr, und nur die Zaunspalten standen ihr offen, durch die sie sehen konnte, wie Sonnenblumen in fremden Gärten blühten.

Der Henker trank zuviel und starb. Aus der Schenke kommend, stürzte er auf der Straße nieder. Eine Flamme schlug aus seinem Munde und niemand hob ihn auf.
Nachts brachten Kriegsknechte mit Fackeln und Schwertern ihn auf den Kirchhof. Nur des Henkers Tochter folgte dem Sarge, die Augen mit der Mutter Tüchlein verdeckt.
Am anderen Morgen ging sie auf den Kirchhof, um nach des Vaters Grab zu sehen, fand es jedoch leer. Am Kirchhof vorbei floss ein schwarzes Bächlein. Drei alte Schwarzellern ragten dort mit nacktem vertrocknetem Geäst in die Luft. Und was erblickte sie dort? In den Ästen des mittleren Baumes hing mit ausgebreiteten Armen ihr Vater. Sein rotes Hemd flatterte im Winde. In der einen Hand hielt er eine Branntweinflasche, in der andern eine Henkerschlinge. Dunkle Rabenscharen stürzten sich in die vertrockneten Äste herab und hackten seine nackten Beine. Das Mädchen bedeckte das Gesicht mit den Händen und lief davon. Überallhin verfolgte sie die furchtbare Erscheinung. Nun erst hatte sie ihren Vater erkannt. Und ihr rotes Haar trug sie wie eine Flamme auf dem Haupte. Ihr schien es, als wisse es ein jeder, der ihr entgegenkam, wer sie sei. Tag und Nacht wanderte sie und erreichte eine andere Gegend wo die Menschen in Glück und Frieden lebten und nicht wussten, was harte Richter und unbarmherzige Henker sind. Dort hütete sie guten Leuten die Kühe. Eine sonderbare Hüterin war das. Ob Regen oder Sonnenschein, sie trug bis an die Augen ein wollenes Kopftuch, sie rief nicht den anderen Hirten zu, und niemand hatte sie von den Hügeln herab jodeln gehört. Überall, wo immer sie ging und stand, schlich ihr etwas auf den Zehenspitzen nach und zischelte ihr ins Ohr: „Du bist die Tochter des Henkers.“
Und wenn sie ein Vögelchen singen hörte oder eine erschlossene Blüte erblickte und bereit war, sich einen Augenblick lang dem Vergessen hinzugeben, da stand schon der Verfolger hinter ihr. Wie die Sense eine Blume abschneidet, so verschnitt dessen scharfes Gezischel ihr jede Freude.
Weder Verwandte noch Freunde hatte das Mädchen, nur einen Bruder, den Schlaf. Der hatte einen ganzen Hof voll lachender Kinder und silberne Schaukeln in nebelhaften Weidenbäumen. Hier war sie dasselbe wie die anderen, und die Kinder spielten mit ihr, nahmen sie an die Hand und setzten sie in die Schaukel… aber die Schaukel hatte eine zerbrechliche Schwungstange, die brach, sie fiel und erwachte: die Sonne schien durchs Fenster und alles war wieder so unbarmherzig hell. Sie blickte an sich hinunter und sah, dass sie noch dieselbe Henkerstochter war.
In einer Nacht, als sie nicht einschlafen konnte und am Fenster saß, glänzte unter den Eschen hervor das Gesicht des Modes auf. Die Blätter der Eschen bebten und das Mondlicht lief in unruhigen Streifen unter den Zweigen hin.
Die Henkerstochter nahm ihr Tuch über und schritt den flimmernden Strahlenweg hinab. Zu Mondmütterchens Schloss wollte sie wandern. Mondmütterchen hatte ein so helles Gesicht und es schaute so weit über Berge und Wälder. Sicher sah Mondmütterchen alles und wusste alles. Das würde ihr sagen, was zu tun sei. Das würde irgendein Wort wissen, welches sie von sich selbst erlösen könnte.
Das Mädchen ging und ging und kam in einen großen Wald. Da hört es hinter sich: dipada dap, dipada dap. Die Wurzeln der Tannen erzittern, und es ist, als ob der ganzen Wald zusammenschrecke. Dann wird es wieder still. Das Mädchen überrieselt es kalt und wieder hört es: dipada dap, dipada dap… Ein schwarzer Reiter rast wie der Sturmwind auf sie zu. Sein weiter Mantel schlägt knatternd gegen die Tannenäste, wie ein Stoßvogel, der sich ins Dickicht verflogen. Die Hufschläge dröhnen immer näher, und das Mädchen kriecht erschrocken unter die Tannen. Der Reiter aber hält sein Pferd an, nimmt das halbtote Mädchen auf den Arm, setzt es vor sich in den Sattel und lässt seinem wilden Rosse die Zügel. Scharf und schnell atmet er dem Mädchen in den Nacken, und von seinem Atem weht kalte Angst in ihr Haar. Es scheint ihr, dass sich ihr Kopf ausdehnt und groß und leer, wie eine Trommel wird. Und die Stimme des Reiters dröhnt:
„Wohin wanderst du, Kind?“
„Ich gehe zum Mondschlosse.“
„Kind, dein Weg ist weit; aber ich kann dich hinbringen.“
„Wer bist du, Schwarzer, und wie hast du mich bemerkt? Ich hatte mich doch unter die Tannen versteckt.“
„Ich bin die Verzweiflung. Meine Kinder kenne ich wohl. Schneller als der Wind trägt uns mein Ross, aber ich reite nur bis zum Morgengrauen.“
So ritten sie, dipada dap, und der Wald erzitterte bis in die Wurzeln. Als es zu tagen begann, hob der Reiter das Mädchen vom Pferde, gab dem die Sporen – und das Ross erhob sich in die Luft und verschwand mit dem Morgennebel über den Waldspitzen. Nur der dunkle Mantelzipfel des Reiters lag noch einen Augenblick lang vor der Sonne.
Das Mädchen trat nun auf eine blühende Wiese hinaus und dort war ihm ein jedes Grashälmchen so gut wie ein Mütterlein. Müde war es, wollte schlafen und hatte doch weder Decke noch Kissen. Doch die Blümchen reichten ihm ihre gefransten Umschlagetüchlein und die Moose ihre braunen Polster. „Ach, hier ist ja unter jedem Hälmchen ein Bettchen,“ staunte das Mädchen. Sie spazierte über die Wiese hin, und niemandem haben die Blumen je so schönen Duft gespendet, wie an dem Morgen der Henkerstochter. Und vor keinem haben sich die Grashälmchen je so achtungsvoll verneigt, selbst vor dem Könige nicht. Wer reich und gerecht ist, der geht nur mit sich selbst durch die Welt und besieht alles von seiner Höhe herab. – Die Henkerstochter aber neigte sich vor jeder Blüte und alles lachte ihr zu, denn sie war nur ein armes Kind, und ein jedes Blättchen am Wege war mehr als sie. Und wenn sie nichts mehr hatte, so besaß sie doch noch diese demütige Freude.
Tagsüber schlief sie, den Kopf auf den Rasen am Wegrande gestützt und die Gräschen sangen ihr grüne Liedlein Nachts hob der schwarze Reiter sie auf sein Ross und dann ging es durch die Wälder dahin – dipada dap, dipada dap – – –
In einer Nacht wurde der Wald lichter und heller. Der Reiter hielt sein Pferd an, hob das Mädchen herab und sagte: „Nun ist dein Weg leicht zu finden. Mondmütterchens Schloss ist nicht mehr weit,“ und galoppierte durch den Wald zurück.
Die Tannen standen immer undichter. An ihrer Stelle kamen grüne Ahornbäume, durch deren Blätter die Mondstrahlen wie blaue Spinnchen krabbelten und in den langen silbernen Fäden unter den weichen Schatten hingen. Dann standen da bleiche Eschen; die hatten einen leichten und weiten Hauch, als ob der Himmel selbst seinen Atem auf sie ströme. Hinter den Eschen erhob sich ein hoher Turm mit schmalen versilberten Fenstern. An seinen alten Steinstufen stand ein blauer Türke mit goldener Sichel an Stelle eine Säbels. Der senkte die Sichel und gab dem Mädchen den Weg frei. Hoch, hoch musste es steigen, und die Treppe wurde immer enger. Es erschien ihm, als schwanke der Turm. Doch wie eine Spinne längs ihrem Faden, so kletterte es in die Höhe, bis es in die Kammer kam, wo Mondmütterchen hauste. Alles war dort wie in alter Zeit. Am Fenster mit den runden Scheiben stand ein goldenes Spinnrad. Das bleiche Flachsknäuel war hoch aufgesteckt. Mondmütterchen saß und spann. Das hatte ein liebes Gesicht mit weißen Locken. Es nickte mit dem Kopfe und wünschte dem Mädchen einen guten Abend, während die Finger den Faden drehten.
Als das Mädchen erzählt hatte, weshalb es hergekommen, gab ihm das Großmütterchen einen kleinen silbernen Schlüssel.
„Da hast du diesen Schlüssel. Mit ihm kann man alle Türen aufschließen, und wer ihn in der Hand hat, der ist unsichtbar. Geh, errette eine junge Seele vorm Henker, dann wirst du Ruhe finden. Hinter dreimal neun Bergen liegt Frostkönigs Schloss. Ein junger Held erwartet dort im Turme seinen Tod. Geh hin und befreie ihn.“
Das Mädchen sagte Großmütterchen schönen Dank und begab sich auf den Weg. Sie schritt durch die Eschen, die Ahornbäume und kam wieder in den düsteren Wald. Dort wusste sie wieder nicht weiter und begann zu weinen. Da, horch, hinter den düstern Tannen hervor – dipada dap, dipada dap – erschien der dunkle Reiter. Sein Mantelsaum streifte des Mädchens Gesicht…
„Was weinst du?“ fragte der Dunkle.
„Ich weiß nicht den Weg nach Frostkönigs Schloss.“
„Besteig mein Ross ich will dich hinbringen.“
Und sie ritten durch den Wald, wie sie noch nie geritten. Das Mädchen hielt sich an der Mähne des Pferdes. Der Atem des wilden Reiters glühte ihr im Nacken und jeden Augenblick glaubte sie herabfallen zu müssen und vom rasenden Pferde zertreten zu werden. Über Baumwurzeln kletterten sie im Dunkel, wie über eine Treppe in den Abgrund – dipada dap, dipada dap.
Gegen Morgen hielt der Reiter sein Pferd vor einem bereiften Tore an. Im Fenster des Turmes schimmerte, wie eingefroren, ein fahles Lichtlein.
„Du Dunkler, Guter,“ wandte das Mädchen sich an den Reiter, „warte dort im Walde, bis dich ein Jüngling ruft. Nimm ihn auf dein Ross und bring ihn über die Berge bis dorthin, wohin Frostkönigs Macht nicht mehr reicht.“
Dann öffnete das Mädchen, leise und unsichtbar, Pforte für Pforte, bis sie in ein Turmgemach kam, wo aus zugefrorenem Fenster ein mattes Licht schimmerte und der junge Held seinen Tod erwartete.
„Nimm diesen Schlüssel und werde unsichtbar. Alle Türen kannst du damit öffnen. Nimm ihn und flieh,“ sagte sei zum Jüngling, „ich werde an deiner Stelle bleiben.“
Doch der Jüngling hatte schon dem Leben entsagt und klammerte sich an den Tod. So hatte das Mädchen es nicht leicht, ihn zu überreden.
„Wenn die Wächter mich nicht finden werden, führen sie dich zum Galgen.“
„Mögen sie. Ich habe ihnen etwas zu sagen. Mir ist, als hätte ich bisher in einer dunklen Höhle gelebt. Nun will ich den hellen Tag sehen und reden.“
„Solch ein Tod kommt Helden zu.“
„Dann gib es zu, dass mir das Leben gehöre. Einen einzigen Augenblick will ich vor dem Tode schauen, wie es hinter den Häuptern der Menschen gleich einem grünen Meere wogt. Lass mich wie einen grünen Morgen es heraufdämmern sehen. Mag man mich zum Richtplatze führen, ich werde hinaussteigen und ihnen etwas verkünden. Niemand ahnt, wie lange und wie schwer dieses Wort den Weg auf meine Lippe gesucht hat. Mein Vater war ein Henker, und als ich klein war, nahm er mich, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, auf den Schoß und ein Ton suchte aus seiner zugeschnürten Kehle nach Worten. Was er damals nicht auszusprechen vermochte, das weiß ich jetzt. Morgen will es jubelnd hinausrufen. Mag man mich zum Richtplatze führen; ich will da hinaufsteigen auf den Galgen und nur ein Wort sprechen: Dieses Wort heißt: Liebe.“
Da widersetzte sich der Held nicht mehr dem Opfer des Mädchens, nahm den Schlüssel aus seiner Hand und ging von dannen.

 

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