Auf der Welt gibt es sieben Miljarden geteilt durch zwei Vulkane

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Kristīne Ulberga
Auf der Welt gibt es sieben Miljarden geteilt durch zwei Vulkane

Aus dem Lettischen von Nicole Nau
(Ausschnitt aus einem Roman in Vorbereitung)

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Wir hatten abgemacht, dass ich Oma nicht sage, dass ich Papa auf dem Friedhof gefunden habe, denn von Friedhöfen darf man nichts mit nach Hause nehmen, weil sonst das Elend einzieht. Doch wir sind reingegangen.
Jetzt muss ich zu Omas Zimmer gehen, auf der Schwelle stehen bleiben, bis drei zählen und wieder weggehen. Sie wird schweigen und weinen. Diesmal sag ich, dass ich auch Papa mitgebracht habe, der ihr Sohn ist und ein berühmter Schriftsteller und alles, was von Mama übrig ist. Die andere Hälfte des Apfels, vertrocknet, aber mit Samen drin. Oma sagt immer, der Papa interessiert sie nicht, für sie ist nur wichtig, was Papa um sich herum geschaffen hat. Ja, sagt sie, dein Vater, Saifa, ist ein fauler sterblicher Gott, und Götter haben es nicht leicht, wenn sie die Welt aufs Neue erschaffen müssen.
Doch Oma und Opa schlafen. Und Papa ist angezogen ins Bett gefallen, aus dem Mamas Duft noch nicht verflogen ist. Jetzt ist keiner mehr da, der ihn unter Lachen an den Füßen kitzelt, seine Scham entfacht, Socken und Hose auszieht, das Hemd aufknöpft und ihn streichelt. Aus dem Schattenreich kommt Mama nur im Herbst und in Nächten, wenn der Wind auf Schlechtwetter gedreht hat.

In der Küche sitzt Italo und verkostet zwei Weine. Er ist der einzige von uns mit braunen Augen, denn er wurde empfangen, als Papa und Mama durch Italien reisten. Zuerst wollte Papa ihn Italiano nennen, aber Mama war dagegen, denn das würde nach kleinem Gangsterboss klingen und welche Mutter will schon, dass ihr Sohn ein Mafioso wird. Oma sagt, in fremden Ländern überträgt sich alles Mögliche auf den Menschen. Zum Beispiel hören die Neger aus Afrika, die nach Amerika gebracht wurden, jetzt ganz andere Musik und schießen aus lauter Langeweile Menschen tot, denn dort kann man an jeder Ecke Schießwaffen kaufen und die Leute sind so komisch blass. Und die Japaner, die in Europa wohnen, bitten ihre Gäste nicht, die Schuhe auszuziehen, bevor sie die Wohnung betreten, denn die könnten beleidigt sein. Die Russen in Lettland kämpfen um ihre Sprache, und die Engländer in Frankreich trinken statt Tee Wein. Das nenne man Ortsdominanz, und deswegen hat Italo braune Augen.
„Du kannst aufhören herumzugehen und Mama zu suchen, sie ist nämlich tot“, sagt Italo.
„Ich such sie ja gar nicht.“
Er springt auf und haut voller Wucht mit den Händen auf den Tisch, so dass das Glas umfällt und der Wein auf den Boden fließt.
„Alle suchen!“ tobt er. „Guck auf diese Flasche, hier, guck! Die Mama war so klein und zierlich. Glaubst, sie könnte nicht in eine Flasche kriechen, um mir jeden Wunsch zu erfüllen?“
Italo nimmt die Flasche und presst sie an sein Auge.
„Mama hat uns immer Wünsche erfüllt, immer…“
Ich drehe mich um und gehe. An der Zimmertür kann man hören, wie die Tropfen des ausgegossenen Weins gegen den Fußboden schlagen. Italo redet nicht mit mir, auch nicht mit sich, und er sucht Mama nicht. Das ist bloß so ein Gerede.
Auf dem Bett in meinem Zimmer liegt eine schwarze Ausstattung. Schwarzer Rock, schwarze Bluse, schwarze Strumpfhosen. Zu Beerdigungen geht man in Schwarzerde, damit der Tote sich schneller eingewöhnt, damit er denkt, all seine Lieben sind bloß nasse Schwarzerdeklumpen. Mama mochte keine schwarzen Kleider. Sie sagte, Schwarz tragen nur Leute, die ohne Schuld sein wollen. Ich ziehe mich schwarz an und krieche unter die Decke. Kein Zweifel, heute Nacht fällt die Atombombe nicht. Das sagt auch Italo, der auf meiner Schwelle steht. Er schwankt, als er an mein Bett tritt, und schaukelt, als er sich auf den Teppich setzt und die Beine kreuzt. „Die Atombombe fällt heute Nacht nicht, denn ich beschütze dich, Saifa“, wiederholt er. „Du musst mich dann nur neben dich ins Bett nehmen, denn stückchenweise kann man nicht beschützen, verstehst du?“
Er beginnt mit den Schuhen. Er zieht sie einfach so aus, ohne die Schnürsenkel zu lösen und lässt sie gegen die Tür fliegen. Dann nimmt er sich das Hemd vor, zieht es sich über den Kopf und schmeißt es gleich auf den Fußboden. Er steht auf, um die Hosen auszuziehen, und streckt die Hüften vor. Italo ist so betrunken, dass er keine Kraft hat den Gürtel aufzumachen. Schließlich hat er nur noch die Unterhose an und kriecht in mein Bett. Sein Körper ist kalt, vor allem die Füße und Hände. Ich klebe mit dem Bauch an der Wand. Italo robbt sich näher an mich ran und beginnt mich zu trösten, so wie Opa Oma tröstet. Er streichelt meine Schultern, den Rücken, den Po. Hoch, runter, hoch und runter.
„Wusstest Du, dass die Atombombe von einem Vulkan aufgehalten werden kann?“
„Nein, wusste ich nicht. Was für ein Vulkan?“
„So einer.“
Er nimmt meine Hand und legt sie an seine Unterhose. Die ist etwas feucht, aber warm. Darunter ist ein Hügel, die Vulkananhöhe. Ich will die Hand wegziehen, aber Italo lässt mich nicht.
„Warte, gleich richtet sich der Vulkan auf, und wenn er ausbricht, dann ist die Atombombe auf ewig besiegt.“
Italo tröstet mich unaufhörlich. Rauf runter, rauf runter.
„Warum bist du angezogen?“ flüstert er mir ins Ohr.
Italo hält noch immer meine Hand, die auf der Vulkananhöhe liegt, doch dann hört er auf, mich zu trösten und streift sich mit der freien Hand die Unterhose runter. Meine Hand schmiegt sich an ein warmes Knäuel, eine Blüte, die sich aufrollt, als hätte sie Sonnenstrahlen gespürt, und einen Moment später ist unter meiner Hand ein mächtiger Vulkan, ein besonderer Vulkan. Hart, aber wunderbar zart. Ich nehme die Hand weg und schaue auf die Bettdecke im Licht der Straßenlaterne. Zwischen Italos Beinen hat sich ein riesiger Vulkan aufgerichtet, der drückt durch die Decke, auf deren Bezug kleine Häuschen mit Gärten und Tieren gemalt sind. Die leben alle friedlich am Fuße des großen Berges. Dumme Bilder. Die ahnen nicht mal etwas von der Existenz der Atombombe.
„Damit der Vulkan ausbrechen kann, muss man ihn anfassen“, sagt Italo und steckt meine Hand wieder unter die Decke. Es ist schön, den harten, warmen Vulkan zu berühren, an dessen Fuße kahle Halme auf pulsierendem schorfigen Grund wachsen, und schön ist die Angst, die die Bilder auf dem Bettbezug spüren. Oh du Erhabener, Vulkan, hab Mitleid mit uns und unseren Familien, spuck deinen Lavastrahl nicht über unsere Behausungen, denn wir wollen noch leben! Aber meine Mama ist gestern gestorben, warum sollte es anderen besser gehen? Ich streichele den Vulkan noch heftiger. Italo atmet jetzt schneller, als wäre das Zimmer voll mit vulkanischer Asche, doch der Ausbruch ist noch nicht geschehen, obwohl der Vulkan heiß ist und immer schneller pulsiert. Und ich höre, wie er spricht: „Ihr einfältigen Dorfbewohner! Solche wie euch gibt es tausendfach, millionenfach! Falsch war es, eure Häuser am Fuß meines schorfigen Berges zu bauen, falsch, zu hoffen, dass das Schweigen, das hundert Jahre gewährt hat, ewig sein wird! Rennt, ihr Kleinen, rennt! Aber ich weiß, dass ihr bleiben werdet. Denn es reizt euch zu sehen…“
Ich reiße die Decke weg, ohne den Griff um den Vulkankoloss zu lösen, der pulsiert wie eine Pumpe, deren Ende verstopft ist. Ich fasse den Vulkan mit der zweiten Hand, damit er nicht mit der Lava zusammen hochgeht. Und dann kommt sie, zusammen mit Italos erleichtertem Schrei. Der Vulkan schießt einen Strahl Magma hoch in die Zimmerluft, und als die Magma sich auf meine Schulter senkt, greife ich die Decke und wische sie ab, um nicht zu verbrennen. Als ich wieder auf Italo schaue, ist der Vulkan ihm auf den Buch gefallen, an seinem Gipfel ist eine große Lavapfütze. Ich nehme die Decke und wische Italo ab, damit er nicht verbrennt.
„Au, vorsichtig!“ Er krümmt sich nach vorn und legt die Hände vor den Vulkan, der wieder zu einem Knäuel oder einer warmen Blüte zusammenschrumpft. Die Dorfbewohner sind gerettet und ich auch.
„Hat der Vulkan jetzt die Atombombe für immer aufgehalten?“ frage ich Italo. Sein Kopf balanciert schlapp auf dem Bettrand, er sieht aus, als wäre er eingeschlafen.
„Fällt jetzt die Atombombe nicht mehr?“ brülle ich lauter.
„Die Atombombe? Was für eine Atombombe?“ Er richtet sich heftig halb zum Sitzen auf, als hätte es nie irgendwelche Atombomben gegeben.
Und es gibt auch nie mehr welche.

Als die Schriftstellerin Kristine Ulberga diesen Text bei den Prosalesungen im Dezember 2012 in Riga vortrug, war das Publikum schockiert. Mich hat er beim Lesen und Übersetzen auch stark berührt und ich erwarte mit Spannung den Rest des geplanten Romans.

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